Stachel der Erinnerung
versuchten die Leute hinter ihnen, über sie in die Freiheit zu
gelangen.
»Geht aus
dem Weg, Lady!« Jemand schubste sie gewaltsam zur Seite. Sie strauchelte und
wäre beinahe gefallen. Weitere Besucher rempelten sie an. Fast wäre sie
tatsächlich zu Boden gegangen, hätte nicht eine feste Hand nach ihr gegriffen,
sich um ihre Taille gelegt und sie festgehalten. Sie wußte, wer der Mann war,
noch ehe sie sich zu ihm umwandte. Auch wenn sie gerade noch schrecklich wütend
auf ihn gewesen war, so überspülte sie nun große Erleichterung.
»Kommt!«
brüllte er über die Schreie der panischen Menschen hinweg. »Wir müssen hier
raus.«
Gwen nickte
nur, dankbar klammerte sie sich an seinen Arm. Unter den Menschen war jetzt
offener Tumult ausgebrochen, die Leute
kämpften im Zuschauerraum miteinander, sie schoben, drängten und fluchten,
rissen Dinge von den Wänden und warfen sie auf die Bühne.
Statt sich
durch die Eingangshalle zu kämpfen, um von dort auf die Straße zu gelangen, zog
der Vicomte sie mit sich in einen Seiteneingang. Er dirigierte sie wieder in
das Theater hinein, vorbei an der Reihe der Logen zu einem Vorhang, hinter dem
sich eine Treppe verbarg, die auf die Bühne führte. Ehe sie die Bühne
erreichten, bog er ab in einen Gang, an dessen Ende es eine Tür auf die Straße
gab.
»Woher
wußtet Ihr, daß dieser Ausgang existiert?« fragte Gwen. Sie lehnte sich
keuchend gegen die Mauer draußen und atmete tief die frische Luft ein.
Der Vicomte
zog amüsiert die Mundwinkel hoch. »Es gab da einmal eine Dame ... eine
Schauspielerin, die ich kannte. Ich will nicht mehr sagen, als daß ich ein
paarmal bei ihr hinter der Bühne war.«
Noch mehr
Frauen, dachte Gwen und fühlte sich mit einem Mal traurig und niedergeschlagen.
Was wollte sie mit einem Mann wie St. Cere? Sie fühlte seine Hand auf ihrer
Hüfte, sicher und entschlossen. Er war immerhin der einzige gewesen, der sich
Sorgen um ihre Sicherheit gemacht hatte ...
Sie
warteten einen Moment, bis sie wieder zu Atem gekommen waren, dann zog er sie
mit sich und machte sich auf die Suche nach seiner Kutsche. Ein paar Minuten
später hatten sie sie gefunden. Sie stiegen ein, und er befahl dem Kutscher
loszufahren.
Gwen
blickte an sich hinunter, zu dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides. Der teure,
malvenfarbene Spitzenbesatz war zerrissen. »Ich sehe sicher schrecklich aus«,
flüsterte sie. Ihr Haar war zerzaust, ihr Retikül hatte sie verloren, und ihre
Schuhe waren voller Schmutz.
Der Vicomte
legte eine Hand unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich. »Ihr seht
bezaubernd aus.«
Sie senkte
den Blick, damit er nicht sah, wie sehr sie sich über seine Bemerkung freute.
»Danke, daß Ihr mir geholfen habt. Ich bin nicht sicher, was mit mir geschehen
wäre, wenn Ihr nicht gekommen wärt.«
Sein
Gesicht verschloß sich. »Sehr wahrscheinlich sind dort heute abend Leute
umgekommen. Ihr hättet dazugehören können.« Er sah sie eindringlich an. »Sie
haben Euch nicht verdient. Keiner von ihnen. Sie wissen nicht, was für einen
Schatz sie an Euch haben.«
Gwen
fühlte, daß Tränen in ihren Augen brannten. Noch nie war jemand so für sie
eingetreten, wie St. Cere es tat. Niemand. Sie streckte die Hand aus und
berührte mit den Fingerspitzen seine Wange. »Würdet Ihr mich küssen?«
Er starrte
sie einen Augenblick lang sprachlos an, sie glaubte zu hören, daß er leise
aufstöhnte. Dann beugte sich sein Kopf zu ihrem, ihre Lippen trafen sich, und
er küßte sie. Sein Kuß war anfangs sanft, sein Mund lag warm auf ihrem, seine
Zungenspitze neckte ihre Mundwinkel. Doch dann wurde sein Kuß heiß und
fordernd. Er zog sie in seine Arme, und seine eine Hand legte sich auf ihre
Brust.
Als die
Kutsche endlich anhielt, war Gwen atemlos und benommen. Nur vage erkannte sie
ihre Umgebung. Die Gardinen der Kutsche waren zugezogen, nur ein schwaches
Licht von der Messinglampe der Kutsche fiel ins Innere. Ihr Herz klopfte so
laut, daß sie gar nicht hörte, wie die Tür sich öffnete. Doch der Vicomte hatte
es gemerkt und drehte sich so, daß sie hinter ihm nicht zu sehen war.
»Wir sind
angekommen, Mylord.«
»Danke,
James.«
Mit dem
Schwall kühler Luft, der über ihre Haut strich, als er ausstieg, kam Gwen
wieder in die Wirklichkeit zurück. »Wo sind wir?«
Der Vicomte
lächelte. »Im Carlton House.« Er streckte ihr die Hand entgegen, doch sie wich
vor ihm zurück, als wäre er eine Schlange – und in diesem Augenblick war er das
sicher
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