Stachel der Erinnerung
sie konnte sich beim besten Willen nicht
vorstellen, wie er sie für seine Tat in der Kirche verantwortlich machen
konnte. Dennoch blieb er abwesend und unpersönlich. Während Jessie sinnend am
Fenster ihres eleganten Schlafzimmers stand, machte sich in ihr die Sorge
breit, daß er mit dieser reservierten Art ihre Ehe fortsetzen wollte.
Jessie
wünschte sich, Papa Reggie würde nach Hause kommen. Er
würde sicher wissen, was zu tun war. Natürlich hatten sie ihm eine Nachricht
geschickt, doch er hatte abgelehnt, sofort zurückzukommen. Er wollte vorerst
in London bleiben, damit das jungverheiratete Paar eine Zeitlang ungestört
war. Jessie vermutete, daß er auch mit dem Herzog sprach und ein gutes Wort
für Matthew einlegte. Zweifellos lag in diesem Fall ein schweres Stück Arbeit
vor ihm.
Matthew
selbst war ohne eine Erklärung verschwunden. Seitdem beobachtete sie den weiten
Weg durch die endlosen Felder und wartete mit einem dicken Kloß im Hals auf
seine Rückkehr.
Früher oder
später würde er zurückkommen. Aber als Stunde um Stunde verging, wurde Jessie
immer unsicherer. Sie spielte mit dem Spitzenbesatz an ihrem eisblauen
Abendkleid und hoffte, daß sie ein Kleid ausgewählt hatte, das ihm gefallen
würde.
Sie
wünschte, Viola wäre hiergewesen, um ihr beim Ankleiden zu helfen, doch auch
sie war in London geblieben.
Am meisten
jedoch wünschte sie sich, Matthew wäre hier. Und nicht bei Lady Caroline
Winston.
Caroline Winston stand vor dem waldgrünen
Brokatsofa im Salon und bemühte sich um Beherrschung, als sie in das dunkle,
angespannte Gesicht des Grafen von Strickland sah. Sie und ihre Familie waren
sofort nach Winston House zurückgefahren. Die erniedrigende Szene, die sich ihr
Beinahe-Verlobter in der St. James Cathedral geleistet hatte, war zu
schockierend.
»Ich weiß
Eure Nachsicht zu schätzen, Lord Landsdowne«, erklärte der Graf gerade ihrem
Vater, der steif neben seiner Tochter stand und wütend die Zähne zusammenbiß,
während er den gutaussehenden Mann betrachtete, der einmal sein Schwiegersohn
hätte werden sollen. »Ich bin Euch äußerst dankbar, daß Ihr mir erlaubt habt,
persönlich mit Lady Caroline zu sprechen. Mir ist klar, wie schwierig das
alles für sie gewesen ist, ganz zu schweigen von Euch und dem Rest der Familie.
Ich kann mein Benehmen nicht entschuldigen. Ich kann Euch nur
immer wieder versichern, wie sehr ich die Schwierigkeiten bedaure, in die ich
Euch gebracht habe.«
Einige
Stunden zuvor hatte Matthew einen Boten mit einer Nachricht geschickt, in der
er um ein Treffen mit ihrem Vater gebeten hatte. Er hatte sich für das, was in
London geschehen war, entschuldigt und auch für den Kummer, den er der gesamten
Familie Winston bereitet hatte. Er hatte gebeten, mit Caroline sprechen zu
dürfen, doch ihr Vater hatte ihm das verweigert. Erst später, nach einer
intensiven Unterredung und einigen hitzigen Worten für den Grafen von
Strickland, hatte ihr Vater nachgegeben und schließlich zugelassen, daß die
beiden miteinander sprachen.
Jetzt
wandte sich Matthew, gekleidet in seine Uniform, marineblaues Jackett mit
goldenen Epauletten und enge weiße Hose, an Caroline und sah sie eindringlich
mit seinen dunkelblauen Augen an.
»Lady
Caroline ... ich bin gekommen, um mich persönlich bei Euch für das zu
entschuldigen, was geschehen ist. Es gibt keine Worte, mit denen ich ausdrücken
könnte, wie leid mir das tut. Es war ganz und gar nicht meine Absicht, Euch in
eine solche Verlegenheit zu bringen. Mir ist immer noch nicht ganz klar, was
eigentlich genau geschehen ist. Vielleicht wird es mir nie gelingen, die ganze
Angelegenheit zu meiner Zufriedenheit zu klären.«
Caroline
hob den Kopf. Ihr Herz klopfte stürmisch. Wut brannte in ihrem Magen wie
bittere Galle. Sie hatte geplant, Matthew zu heiraten, solange sie denken
konnte. Er war reich und besaß einen Titel, und er sah so gut aus, daß jede
andere Frau der Gesellschaft sie um ihn beneidet hätte. Es fiel ihr schwer,
sich zu beherrschen. Dennoch gelang es ihr, ihre Wut vor ihm zu zügeln.
»Vielleicht
ist das alles ja gar nicht so schwer zu verstehen. Vielleicht habt Ihr Euch
ganz einfach in sie verliebt.«
Lange Zeit
sagte Matthew gar nichts. Er stand einfach nur vor ihr, mit malmenden Kiefern
und sehr aufrecht. »Es stimmt, ich hege Gefühle für sie«, gab er schließlich
zu, und Caroline versteinerte.
»Es hat sogar einen Zeitpunkt gegeben, an dem ich an eine Eheschließung gedacht
habe – aber nie auf
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