Stachelzart
Mütterchen-Harmlos-Nummer für kurze Zeit zum Schweigen zu bringen und mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Aber dann holte sie meist zu einer ganz fiesen Nervattacke aus und katapultierte uns damit auf Stufe 4 der Skala.
In Stufe 4 waren wir beide kurz davor uns an die Gurgel zu gehen. Es fielen böse Worte und wir suchten schnellstmöglich räumliche Trennung voneinander, um größere Schäden an Körper und Geist zu verhindern. Stufe 4 hatten wir bisher zum Glück erst dreimal erreicht. Ich brauchte danach einige Wochen, bevor ich Lust hatte, mich wieder bei Vera zu melden. Und ihr ging es bestimmt nicht anders. Ein Jammer, dass wir beide so unterschiedlich waren. Hätte ich wenigstens eine Schwester oder einen Bruder gehabt, hätte sich Veras Aufmerksamkeit aufgeteilt und wir hätten sicherlich weniger Reibungspunkte gehabt. So aber hatte ich leider ihre volle Aufmerksamkeit.
Den schlimmsten Streit überhaupt, der fast zu einer Stufe 5 (kurz vor der Annullierung der verwandtschaftlichen Verhältnisse) geführt hatte, hatten Vera und ich wegen meines letzten und einzigen festen Freundes: Stefan. Stefan lernte ich mit siebzehn kennen. Er war damals schon 21, also in meinen Augen total erwachsen. Stefan war Sänger in einer Rockband und so cool, dass ich es kaum fassen konnte, dass er sich ausgerechnet für mich interessierte. Ich wollte natürlich genau so cool sein, wie Stefan und legte mir deshalb eine klitzekleine Tätowierung am Knöchel zu. Als Vera die Tätowierung entdeckte, rastete sie aus. Nicht dass sie meine Beziehung zu Stefan sonderlich gestört hätte. Vera konnte es nicht fassen, dass ich meinen Körper „für einen Kerl verschandelt hatte“.
„Kein Mann ist es wert, dass du so was machst!“, zeterte sie.
Ich erwiderte daraufhin, dass sie sich ja auch oft genug für die Männer unters Messer legen würde und deutete auf die prägnantesten Botox-Stellen in ihrem Antlitz.
Vera wurde vor Ärger ganz grün im Gesicht. „Das denkst du von mir?“, schrie sie. „Dass ich nur ein hübsches Weibchen für die Männer sein will? Ich sag dir jetzt mal was über Männer: Die braucht keiner! Die machen nur Dreck und Arbeit. Und interessieren sich null für dich! Wenn du schlau bist, schaffst du dir erst gar keinen Mann an! Ich will nur schön für mich sein und nicht für irgendeinen Typen!“
Ich entgegnete, dass ich sehr wohl wüsste, dass Vera auf männliche Bestätigung stehen würde, sonst würde sie sich ja nicht so auftakeln.
Nach dieser Bemerkung sprach Vera ganze drei Wochen nicht mit mir.
Als Stefan dann irgendwann nach einem Auftritt mit seiner Band mit einem anderen Mädchen abstürzte und sich von mir trennte und ich ihm wochenlang hinterher trauerte, verfluchte ich Vera für ihr wissendes Grinsen. Aber ich begann ihr Bild von Männern langsam zu verstehen. Auch wenn ich die Hoffnung noch nicht aufgeben wollte, dass mir irgendwann doch noch ein passendes Exemplar über den Weg laufen würde. Zumindest drängte Vera mich nicht dazu, einen Mann kennen zu lernen, so wie es viele Mütter meiner Freundinnen taten. Vera war es nur recht, wenn ich alleine blieb, so wie sie selbst und das Thema „Enkelkinder“ war für sie in etwa so spannend wie für einen Fußballspieler ein Spiel ohne Ball. Vera mochte Kinder nicht besonders gut leiden.
„Wir sollten weiter fahren“, drängelte ich und verputzte schnell das letzte Stück meines Kuchens. „Sonst kommen wir heute gar nicht mehr an.“
„Du hast Recht“, meinte Vera und trank ihren Kaffee aus.
Hört, hört, sagte meine ketzerische innere Stimme. Ich habe ausnahmsweise einmal Recht!
Vera und ich verabschiedeten uns von den Zeisigs und wünschten einander eine gute Fahrt.
„Du Vera“, begann ich vorsichtig, als wir im Eingangsbereich der Raststätte standen und uns mit Schirm und Jacken gegen den Regen wappneten. „Hast du was dagegen, wenn ich weiterfahre? Ich dachte mir, dann könntest du deinen Termin während der Fahrt noch ein bisschen vorbereiten.“
„Keine schlechte Idee“, antwortete Vera zu meiner Überraschung und reichte mir die Autoschlüssel. Das war das zweite Mal innerhalb von zehn Minuten, dass sie mir zustimmte. So etwas war bisher noch nie vorgekommen.
Harmonie pur!
Wahrscheinlich hatte Vera sich auch vorgenommen, unseren Kurzurlaub ohne Streitigkeiten zu verbringen. Ich gab mir einen Ruck und schenkte ihr mein schönstes Lächeln.
„Danke!“
Vera nickte und lief bewaffnet mit ihrem
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