Stachelzart
starren. Es gab nicht viel, was mich in Panik versetzte. Ich hatte noch nicht einmal Angst vor Schlangen und Spinnen. Genau genommen waren es nur drei Dinge, vor denen ich mich fürchtete:
- extreme Höhe
- Spritzen
und Veras Fahrweise.
Vor Höhe hatte ich auch nur Angst, wenn ich frei nach unten sehen konnte. Im Flugzeug fliegen konnte ich durchaus ohne Panik, denn hier war die Höhe für mich sehr abstrakt und außerdem saß ich ja auch sicher im Flugzeuginneren. Auch Bergbahnen waren kein Problem. Was allerdings gar nicht ging, waren sehr steile, ungesicherte Höhenwege mit Abgrund oder sehr hohe Gebäude, von denen man heruntersehen konnte. Ich war vor ein paar Jahren zum Beispiel mit Freunden in Köln und wir wollten den Kölner Dom besichtigen. Das Treppenhaus habe ich noch unfallfrei nach oben geschafft, aber als wir auf der Aussichtsplattform standen, ging gar nichts mehr. Der Boden unter mir fing an zu schwimmen und mir wurde richtig schwindelig.
Warum ich Angst vor Spritzen hatte, wusste ich nicht. Aber wenn ich diese kleinen fiesen Nadeln schon sah, wurde mir übel. Selbst Blut abnehmen ging gar nicht. Einmal bin ich sogar in einer Arztpraxis ohnmächtig geworden, als sie mir Blut abnehmen wollten.
Veras Fahrweise verursachte bei mir ebenfalls akutes Unwohlsein. Sie machte immer so viele Sachen nebenbei (SMS schreiben, Lipgloss auflegen, im Handschuhfach herumkramen), sodass sie gar nicht richtig auf die Straße achtete. Bis auf einige kleinere Auffahrunfälle war ihr allerdings noch nie etwas wirklich Schlimmes passiert. Sie schien einen gnädigen Schutzengel zu haben. Ich war mir nur nicht sicher, ob dieser Schutzengel auch mich beschützen würde. Vor allem bei diesen Wetterverhältnissen. Ich beschloss Vera gleich mal zu einer Pause zu überreden und danach selber weiter zu fahren. Wenn ich sie schon nicht zum Umkehren bewegen konnte, wollte ich wenigstens das Steuer in der Hand haben. Um sie von meiner Idee zu begeistern, würde ich sie, während wir unsere Latte macchiatos schlürften, ganz beiläufig fragen, ob sie nicht noch den Termin mit diesem Mann in der Berghütte vorbereiten wolle. Ich würde dann auch den Rest der Strecke fahren, damit sie arbeiten könnte.
„Du, Vera, ich könnte jetzt dringend einen Kaffee gebrauchen. Lass uns doch mal eine Pause machen!“, schlug ich vor.
Vera nickte. „Einverstanden. An der nächsten Raststätte halte ich an!“
Zum Glück war die nächste Autobahnraststätte nicht mehr allzu weit entfernt. Veras ultramodernes Navigationsgerät zeigte sie in 5 km Entfernung an. Es standen sicherlich auch Schilder mit Hinweisen am Straßenrand, aber obwohl wir höchstens 50 km/h fuhren, war der Regen so dicht, dass man sie nicht sehen konnte.
„Ich ruiniere mir mein ganzes Outfit, wenn ich gleich aussteige!“, jammerte Vera.
Veras Outfit war ihrem heutigen Termin mit dem Einsiedler in den Bergen angepasst. Das Motto sollte wohl „Hütten-Chic“ lauten. Oder besser das, was Vera unter „Hütten-Chic“ verstand. Sie trug eine enganliegende schwarze Hose mit Alpenveilchen-Stickereien an den Seitennähten, eine silberne Steppjacke mit Kunstpelzkragen und undefinierbare schwarze Fellschuhe, die aussahen wie zwei totgeschossene Miniatur-Alpakas. Der Hütten-Mann würde sich bestimmt nicht mehr einkriegen vor lauter Lachen. Ich stellte mir eine Kommunikation zwischen den beiden jetzt schon schwierig vor, denn Vera sah eher aus wie aus einem Modekatalog für Luxus-Skiklamotten entsprungen, als berg- und wandertauglich gekleidet.
Ich hingegen hatte bei der Wahl meines Äußeren praktisch gedacht. Lange Autofahrt und Berghütte dazu passten meiner Meinung nach Jeans, Kapuzenpullover und bequeme Wanderschuhe am besten. Dazu eine wasserdichte Softshelljacke – fertig! Für Vera war mein Äußeres natürlich nicht spektakulär genug.
„Mein Gott, Anna, hättest du dich nicht etwas schicker machen können? Dieser Termin ist wirklich wichtig für mich!“, hatte sie gestöhnt, als sie mich mit ihrem Auto zuhause abholte. Ich schwieg und zuckte mit den Schultern. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, mich nicht schon in den ersten Stunden unseres Trips mit Vera zu streiten.
Vera rutschte mit dem Mercedes auf die Ausfahrt zur Raststätte zu und hielt so nah wie möglich am Eingang. Sie öffnete die Autotür und versuchte sich beim Aussteigen so gut es ging, vor dem Regen zu schützen. Selbstverständlich brauchte sie dazu den einzigen
Weitere Kostenlose Bücher