Stachelzart
Schirm durch den Regen zum Auto. So weit, dass sie mich mit unter den Regenschirm nahm, ging ihre Nächstenliebe also noch nicht.
Ich seufzte und rannte ebenfalls los.
Zumindest hatte ich nun das Steuer und somit unser Schicksal in der Hand.
Drei Stunden später waren wir noch nicht sehr weit gekommen. Veras Navigationssystem zeigte an, dass wir erst 50 km vor München waren. Es dämmerte bereits und der Regen prasselte unverändert stark auf die Fahrbahn.
„So ein Mist!“, schimpfte Vera. „Um diese Uhrzeit wollte ich den Termin längst schon hinter mir haben und mit dir an der Hotelbar einen Prosecco trinken!“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich vorsichtig.
„Einen Zwischenstopp einlegen und irgendwo hinter München übernachten?“, schlug Vera vor.
„Gute Idee!“, stimmte ich erleichtert zu. Mit zunehmender Dunkelheit fiel es mir immer schwerer die Umrisse der Fahrbahn zu erkennen. Lange würde ich nicht mehr fahren können, denn leider war ich ziemlich nachtblind. Ich vermied es meistens im Dunkeln Auto zu fahren. Auch Vera war leicht nachtblind, eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die wir hatten. Ich merkte, dass ich nun viel unsicherer fuhr als noch vor einer Stunde, als es noch einigermaßen hell draußen war. Soweit man bei diesem Wetter überhaupt von Helligkeit sprechen konnte.
Um mich abzulenken, interviewte ich Vera über den Hütten-Mann.
„Was ist das eigentlich für ein Typ, den du auf seiner Hütte besuchen willst?“, fragte ich.
„So genau weiß ich das gar nicht! Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, da er ja weder Telefon noch E-Mail oder sonst irgendetwas hat. Ich habe ein bisschen recherchiert und herausgefunden, dass er Samuel Wagner heißt und 56 Jahre alt ist. Er war wohl irgend so ein hohes Tier in einem großen Pharmakonzern. Vor zwei Jahren hat er plötzlich seinen Job gekündigt und sich das Areal in den Lechtaler Alpen gekauft. Dort lebt er nun, wie ein richtiger Einsiedler. Mehr weiß ich leider auch nicht“, erzählte Vera.
„Hört sich aber nicht so an, als ob er verkaufen würde“, gab ich zu bedenken. „Scheinbar hat er sich bewusst für die Einsamkeit entschieden!“
„Ach, den überzeuge ich schon. Mein Kunde hat ein wirklich interessantes Angebot für ihn!“, entgegnete Vera.
„Was denn für ein Angebot?“, wollte ich wissen.
„Oh, es geht dabei um einige hunderttausend Euro. Und soweit ich weiß, hat das Grundstück damals nur knapp die Hälfte gekostet. Mein Kunde wird daraus ein Resort für gestresste Manager machen. Das findet der Hüttenmann bestimmt gut. Und außerdem kann man mit Geld doch fast alles regeln!“
Ich zuckte mit den Schultern. Meiner Meinung nach konnte man mit Geld nicht fast alles regeln. Ich befürchtete, dass Vera bei dem Einsiedler auf Granit beißen würde. Denn wer freiwillig in der Einöde lebte, war bestimmt nicht an Geld interessiert. Und ob er Interesse an einem Gestresste-Manager-Resort auf seinem Gelände hatte, wagte ich auch zu bezweifeln. Ich behielt meine Überlegungen aber lieber für mich. Sollte Vera selbst sehen, wie sie klar kommen würde. Vielleicht würde sie morgen das erste Mal in ihrem Leben nicht sofort das bekommen, was sie haben wollte.
Auf jeden Fall würde es spannend werden!
Viertes Kapitel
Samstag, 5. Oktober
„ You are my sunshine, my only sunshine, ...“, dudelte mein Handy und riss mich damit unsanft aus dem Schlaf. Müde tastete ich nach meinem Mobiltelefon.
„Ja, bitte?“
Niemand antwortete und das Handy sang weiter.
Ach ja , ich schlug mir mit der flachen Hand gegen den Kopf. Die Weckfunktion! Ich hatte gestern die Weckfunktion aktiviert und als Gag wegen des Unwetters draußen diesen Song als Weckruf ausgewählt. Ich schaltete den Wecker aus und setzte mich auf. Neben mir schnorchelte es. Vera schlief noch und schnarchte dabei. Müde rieb ich mir die Augen. Es war gestern schon nach 22 Uhr, als wir hinter München einen einigermaßen passablen Gasthof gefunden und beschlossen hatten dort zu übernachten. Einzelzimmer gab es leider nur zwei und die waren bereits belegt. Also beschlossen Vera und ich zusammen in einem Doppelzimmer zu schlafen. Eine Nacht würden wir beide das schon überstehen.
Dass das doch keine gute Idee war, stellte sich ziemlich schnell heraus.
Nachdem wir uns hingelegt hatten, schlief Vera fast sofort ein und schnarchte fast die ganze Nacht. Ich bekam kaum ein Auge zu. Vor lauter Verzweiflung
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