Stachelzart
meine Probleme mit Kay und Vera reden. Immerhin war ich zum Abschalten hier hoch gekommen. „Ich habe vorhin deinen Vogel gesehen“, erzählte ich ihm.
„Was? Die Felsenschwalbe? Bist du sicher? Wo denn?“
„Sicher bin ich nicht, ich bin ja kein Vogelforsche r. Aber der Vogel sah genauso aus wie der gestern. Er saß hinter dem Haus auf einem Baum. Als er mich gesehen hat, ist er weg geflogen.“
„Kannst du mir zeigen, wo das war?“, bat Henri. „Ich habe die Felsenschwalbe nämlich den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen.“
Ich nickte und bedeutete Henri, mir zu folgen.
„Lass uns leise sein“, flüsterte er. „Vielleicht ist sie ja wieder da.“
Wir schlichen um das Haus herum. Und tatsächlich, da saß der Vogel wieder in dem Baum und putzte sein Gefieder.
„Ein Weibchen“, wisperte Henri. Vorsichtig nahm er seine Digitalkamera vom Hals. „Nicht bewegen, Anna!“
Er drückte auf den Auslöser und schaffte es tatsächlich, einige Bilder zu schießen. Doch dann entdeckte uns die Schwalbe und flog mit einem empörten „Prritprrit“ wieder davon.
Henri betätigte die Wiedergabe-Funktion der Kamera.
„Großartig!“, freute er sich und drehte die Kamera so, dass ich auch etwas sehen konnte. Eines der Bilder gefiel mir richtig gut. Es zeigte die Schwalbe kurz bevor sie davon geflogen war, mit ausgebreiteten Flügeln und leicht geöffnetem Schnabel.
„Das war ein Weibchen“, erklärte Henri. „Der Vogel, den du gestern gesehen hast, war ein Männchen.“
„Dann ist das Weibchen bestimmt auf der Suche nach ihrem Männchen“, mutmaßte ich.
„Kann sein“, meinte Henri.
„Ist es nicht so, dass Vögel ihr Leben lang zusammen bleiben?“, fragte ich.
„Es gibt durchaus Vogelarten, die ihr Leben lang als Paar zusammen bleiben, aber das heißt nicht, dass sie auch ihr Leben lang treu sind. Oft stammen die Küken in den Nestern der Weibchen von anderen Männchen und die Männchen haben Küken in den Nestern verschiedener Weibchen“, erklärte Henri.
„Wirklich? Ich dachte immer, dass es wenigstens in der Vogelwelt so etwas wie wahre Treue gibt!“
„Nein, da muss ich dich enttäuschen. Genetisch ist das auch nicht sinnvoll, denn durch wechselnde Partner wird die genetische Vielfalt größer. Und unsere klimatischen Bedingungen ändern sich ständig, da ist es wichtig, dass die Vögel angepasst sind. Und das geht mit immer demselben Partner nicht.“
Na so was , dachte ich. Selbst die Vögel sind untreu.
„Denkst du, das ist bei den Menschen auch so“, fragte ich. „Dass Untreue normal ist?“
„Ich weiß nicht. Da gibt es viele Forschungen zu. Ich glaube aber, dass Männer tatsächlich anfälliger für Treuebrüche sind als Frauen.“
Ich musste an Kay denken und seine Freundin Svea. Ob er sie wirklich mit mir betrügen wollte? Oder hatte er doch die Wahrheit erzählt und sich von ihr getrennt? Dann war diese Trennung aber noch nicht bis zu den Medien durchgesickert, denn sonst hätte Vera das sicherlich gewusst.
„Was glaubst du denn?“, fragte Henri. „Glaubst du an einen Partner fürs Leben?“
Ich überlegte und nickte dann. „Doch, wenn es der richtige Partner ist, glaube ich schon, dass es ein Leben lang funktionieren kann!“
„Ja, die Vorstellung finde ich auch schön“, stimmte Henri mir zu. „Einmal dachte ich bisher, ich hätte die richtige Lebenspartnerin gefunden, aber dann musste ich einsehen, dass ich mir das nur eingebildet hatte.“
„Das tut mir leid“, antwortete ich. „Was ist denn passiert?“
„Ich war ihr scheinbar nicht vermögend genug. Am Anfang fand sie es wohl gut mit einem Professor zusammen zu sein, aber ihre Konsumansprüche waren so hoch, dass ich sie nicht erfüllen konnte. Wollte ich auch gar nicht. Nun ist sie mit einem dicken Geschäftsmann mit Glatze verheiratet, fährt einen Luxusschlitten und trifft sich mit furchtbar wichtigen Leuten zum Frühstücken. Nur schade, dass ich vorher so blind war. Ich hatte sie ganz anders eingeschätzt!“
„Die Dame muss ja furchtbar dumm sein“, antwortete ich.
„Danke, das ist lieb von dir“, meinte Henri. Seine braunen Augen sahen nun traurig aus.
Armer Henri , dachte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man eine so nette Person wie Henri gegen einen reichen Geldsack eintauschen konnte. Aber solche Frauen gab es leider auch.
„Und glaubst du denn trotzdem noch an die große Liebe?“, wollte ich wissen.
„Ich weiß es nicht. Ich würde schon gerne daran glauben, aber
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