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Stachelzart

Stachelzart

Titel: Stachelzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasmin Wollesen
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unterstellt hatte, ich hätte Kay verführt. Dabei war das jawohl anders herum! Immerhin hatte er mit dem Flirten angefangen, indem er ständig diese Sprüche machte.
    Müde stand ich auf und tapste ins Badezimmer. Meinem desolaten und verheulten Spiegelbild streckte ich die Zunge heraus.
    Nach einer Katzenwäsche und dem täglichen Zähneputzen mit dem Zeigefinger band ich mir die Haare zusammen und schlüpfte in die Klamotten vom Vortag. Wie sehr sehnte ich mich nach einer warmen Badewanne und meinem gut gefüllten Kleiderschrank.
    Es sind nur noch ein oder zwei Tage, Anna, das schaffst du auch noch!, machte ich mir selber Mut. Kay hatte ich zum Glück nirgendwo entdecken können. Wahrscheinlich hatte er wirklich bei Sam in der Scheune übernachtet. Ich nahm mir einen Apfel aus der Küche. Unser Vorrat an Brot war mittlerweile aufgebraucht. Den Rest Wurst und Käse hatten wir gestern aufessen müssen, da die Sachen ohne Kühlung nicht länger haltbar gewesen wären. Vielleicht hatte Sam noch etwas Müsli? Ich öffnete den Küchenschrank und verschob einige Packungen Mehl und Zucker, um sehen zu können, ob sich dahinter vielleicht eine Müslipackung verbarg. Eine Müslipackung konnte ich nicht entdecken, dafür aber eine Metalldose. Vielleicht bewahrte Sam darin sein Müsli auf? Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und angelte die Dose aus dem Schrank. Dann öffnete ich den Deckel und blickte hinein. In der Dose befand sich kein Müsli, dafür aber ein Stapel Briefe. Eigentlich hätte ich die Dose nun wieder zurückstellen müssen, aber dafür war ich viel zu neugierig. Ich nahm die Briefe aus der Dose, wählte einen aus und begann zu lesen. Dabei achtete ich darauf, dass keiner der anderen das Wohnzimmer betrat und mich beim Schnüffeln erwischte.
    Bei dem Brief handelte es sich um eine Rechnung für die Pflege eines Grabes. Wem das Grab wohl gehörte? Ich nahm den nächsten Brief aus dem Umschlag. Eine Rechnung für eine Todesanzeige. Leider war der zugehörige Text nicht mit abgedruckt. Das Datum auf der Rechnung war anderthalb Jahre alt. Wer war denn gestorben?
    Ich öffnete den nächsten Brief und ein zusammengefalteter Zeitungsbericht fiel mir entgegen. In der Headline stand:
     
    Tragischer Autounfall – Gattin und Tochter von PHC Vorstand Samuel Wagner verstorben …
     
    Aufgeregt las ich weiter und erfuhr, dass Sams Frau und seine achtjährige Tochter vor anderthalb Jahren einen Autounfall hatten. Ein LKW Fahrer war am Steuer eingeschlafen und hatte die beiden ungebremst überrollt. Sams Frau war auf der Stelle tot, seine Tochter starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
    Oh mein Gott, dachte ich. Der arme Sam! Er hatte eine Familie und nun sind alle tot!
    Eine Träne brannte in meinem  Augenwinkel. Ich nahm noch einen Brief aus der Dose und faltete ihn auseinander. Dieses Mal hielt ich eine Kinderzeichnung in den Händen. Darauf waren ein Mann, eine Frau und ein kleines Mädchen abgebildet. Um die drei herum war ein großes rotes Herz gezeichnet. Darunter stand in einer Kinderschrift:
     
    Du fählst mier Papa!
     
    Das war zu viel für mich. Mir liefen die Tränen nur so die Wangen hinunter. Zutiefst betroffen faltete ich die Briefe wieder zusammen, steckte sie in die Dose und stellte alles wieder an den ursprünglichen Platz zurück. Mein Kummer wegen Kay kam mir plötzlich lächerlich vor. Er war einfach nur irgendjemand, den ich erst seit ein paar Tagen kannte. Sam hingegen hatte seine ganze Familie verloren. Es war bestimmt sehr schlimm, wenn der Partner starb, aber wenn auch noch das Kind starb ….
    Ich konnte mir vorstellen, wie Sam litt. Jetzt verstand ich, warum er hier in den Bergen lebte. Das war seine Art der Trauerbewältigung. Wenn es überhaupt möglich war, eine solche Trauer zu bewältigen. Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen.
     
    „Anna?“
    Oh nein, nicht du, nicht jetzt, dachte ich, drehte mich um und sah direkt in Kays verquollene Augen.
    „Anna, weinst du?“ Mit einem Satz war er neben mir und legte den Arm um meine Schultern.
    Ich schubste seine Hand weg. „Bild dir nichts ein, ich weine nicht wegen dir!“
    „Warum – hatschi – denn?“, nieste Kay.
    „Geht dich nichts an!“ Ich drehte mich um und wollte an ihm vorbeigehen, doch er hielt meine Hand fest.
    „Anna – hatschi – bitte, lass uns reden!“
    „Wozu?“, erwiderte ich unfreundlich. „Ist ja nicht viel passiert. Wir vergessen das einfach und spätestens übermorgen sehen wir uns hoffentlich nie

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