Stachelzart
nicht s chuld an ihrem Tod. Das darfst du so nicht sehen“, versuchte ich ihn zu trösten.
„Oh doch, das bin ich. Wäre ich für die beiden da gewesen, wäre der Unfall gar nicht erst passiert. Du weißt nicht, wie oft ich mir vorstelle, was gewesen wäre, wenn ich meinen Termin abgesagt hätte und mit den beiden nach Italien geflogen wäre. Dann würden sie noch leben.“
„Sam ...“, sagte ich, doch er schnitt mir das Wort ab.
„Ich konnte danach nicht mehr so weitermachen wie zuvor und habe meinen Job gekündigt. Von meinen Ersparnissen habe ich dann die Hütte und das Berggrundstück gekauft. Ich wollte alleine sein. Manchmal stelle ich mir vor, dass Emmi noch lebt und mit mir die Ziegen füttert oder Blumen pflückt.“
Ich schwieg. Was hätte ich dazu auch sagen sollen? Eine Zeit lang gingen Sam und ich stumm nebeneinander den Weg entlang. Schließlich seufzte er tief auf, schüttelte den Kopf, als ob er sich wieder sammeln wollte und sah mich mit seinen blau-grauen Augen direkt an. Seine Gefühle schien er nun wieder hinter einer dicken Mauer versteckt zu haben.
„Du bist dran!“, sagte er.
„Was meinst du?”, wollte ich wissen.
„Wir hatten einen Deal. Ich erzähle dir etwas über mich, wenn du mir eine Frage beantwortest. Also, hier kommt meine Frage: Warum läufst du die ganze Zeit weg?“
Damit erwischte er mich kalt. „Das, das ist kompliziert“, stammelte ich.
„Hör mal, Anna. Ich will mich nicht einmischen, aber der arme Kay ist wirklich völlig fertig. Ich weiß nicht, was zwischen euch beiden läuft, aber er war richtig aus dem Häuschen, als ich ihm gesagt habe, dass du ihn heute nicht sehen willst und den Tag in der Vogelstation verbringen möchtest. Ich gebe zu, dass ich ihn am Anfang für einen eingebildeten Snob gehalten habe, aber das muss ich zurücknehmen. Er ist ein netter Kerl und er hat heute wirklich gut geholfen, uns etwas einigermaßen Essbares auf den Tisch zu bringen. Und das war bei der geringen Lebensmittelauswahl nicht sehr einfach. Außerdem kann man ihm mit seinem Heuschnupfen noch eine Nacht bei mir in der Scheune wirklich nicht zumuten. Der Arme sieht aus, als ob er mit dem Gesicht in ein Wespennest gefallen wäre. Seine Augen sind total zugeschwollen. Und dass du ihn die ganze Zeit auf deine Mutter aufpassen lässt, finde ich auch nicht in Ordnung. Warum man vor ihr manchmal davon laufen möchte, kann ich nämlich sehr gut verstehen. Die Frau ist wirklich anstrengend!“
Wow , dachte ich. Das war ja fast so etwas wie eine väterliche Standpauke. Komisches Gefühl von jemandem wie Sam zurechtgewiesen zu werden.
Ich überlegte . Vielleicht hatte er ja Recht und ich war wirklich zu hart zu Kay.
„Gut“, seufzte ich. „Ich rede mit ihm!“
Das war ich Sam wohl schuldig. Immerhin hielten wir uns alle ohne Einladung in seinem Haus auf. Und dass er dann nicht noch missgelaunte Menschen um sich herum haben wollte, konnte ich verstehen. Wir hatten seinen normalen Tagesablauf ohnehin schon mehr als durcheinander gebracht.
„Ich muss mich um die Ziegen kümmern“, meinte Sam, als wir sein Haus erreicht hatten. Er schien nun, nachdem er von seiner Familie gesprochen hatte, allein sein zu wollen. „Und du redest besser gleich mit Kay, damit wir die Schlafsituation klären können. Es dauert nicht mehr lange, bis es draußen ganz dunkel wird!“
Ich nickte widerwillig und schlurfte langsam hinüber zum Haus. Versprochen ist leider versprochen , dachte ich.
Als ich vor der Haustüre stand, klopfte mein Herz so laut, dass ich mir fast sicher war, dass Vera und Kay es drinnen hören mussten. Ich fühlte mich unwohl und hatte eigentlich keine große Lust, den beiden gegenüber zu treten. Aber Sam hatte recht: Ich konnte nicht immer davon laufen. Vielleicht war es ganz gut, dass er mich dazu zwang, über meinen Schatten zu springen. Normalerweise ging ich Konflikten mit anderen Menschen nämlich lieber aus dem Weg, oder baute mir eine Brücke drum herum. Ich hasste es, wenn ich keinen Einfluss auf meine Gefühle hatte. Vera bildete da die einzige Ausnahme. Ihr gegenüber hatte ich kein großes Problem mit Konflikten. Aber das war wahrscheinlich eine Art Überlebensinstinkt aus meiner Kindheit. Hätte ich mir nämlich alles von Vera gefallen lassen, hätte es übel für mich ausgesehen. Was natürlich nicht hieß, dass ich mir von anderen Menschen alles gefallen ließ, ganz bestimmt nicht. Aber ich hielt nichts von einer zwischenmenschlichen Aussprache,
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