Stachelzart
wieder!“
Kay kam nicht dazu, mir zu antworten, denn ihn überkam ein gewaltiger Niesanfall. Scheinbar hatte er wirklich in der Scheune übernachtet und nun machte sich sein Heuschnupfen bemerkbar. Mit geschwollenen Augen und roter Nase sah er auch nur noch halb so attraktiv wie gestern aus, was mir gerade sehr gelegen kam. Ich nutzte seine erneute Niesattacke, entwand ihm meine Hand und flüchtete nach draußen. Dort lief ich Sam in die Arme.
„Guten Morgen, Anna“, begrüßte er mich und mit einem Blick in mein Gesicht fragte er: „Alles in Ordnung?“
Ich biss die Lippen zusammen und nickte. Ich konnte Sam ja schlecht erzählen, dass ich so traurig war, weil ich nun seine Geschichte kannte. Irgendwie musste ich es schaffen diesen Vormittag hinter mich zu bringen. Kay und Vera konnte ich heute nicht ertragen.
Und wenn ich einfach jetzt schon hinauf zur Vogelstation gehe? , überlegte ich. Dann würde ich meinen Schreibblock mitnehmen. In dieser Stimmung konnte ich bestimmt eine tieftraurige Geschichte schreiben. Und Sam könnte heute Nachmittag nachkommen und mich später wieder nach Hause begleiten. Wenn wir erst abends zurückkommen würden, hätte ich es den ganzen Tag geschafft, Vera und Kay aus dem Weg zu gehen. Und morgen wäre das Ganze hier vielleicht schon vorbei. Ich würde dann so schnell wie möglich zurück nach Berlin fahren, ob mit oder ohne Vera.
Der Plan gefiel mir. „Du Sam, ich würde gerne schon heute Vormittag zur Vogelstation gehen und dort oben ein bisschen schreiben. Wäre das ok? Willst du mitkommen oder kommst du dann heute Nachmittag nach?“
„Du willst dich verdrücken, habe ich Recht? Was ist denn los? Kay kam gestern Abend ganz aufgelöst zu mir in die Scheune. Der arme Kerl hat die halbe Nacht nur geniest, aber er hat gesagt, er kann nicht zurück ins Haus, weil du ihn nicht mehr sehen willst!“
„Hat er nicht erzählt, warum?“
„Nein, hat er nicht.“
„Ehrlich gesagt, möchte ich gerade auch nicht darüber reden. Vielleicht später ….“
Sam zog die Augenbrauen hoch und betrachtete mich kritisch, fragte aber nicht weiter nach. „Gut, wie du meinst. Aber du weißt schon, dass du noch weniger mit unserer illustren Runde klar kommst als ich? Du bist eigentlich ständig verschwunden … .“
„Ich weiß“, nuschelte ich. „Hilfst du mir trotzdem?“
„Dann habe ich aber etwas gut bei dir. Deine Mutter wird mich nämlich bestimmt wieder wegen des Grundstücks beschwatzen!“, stöhnte Sam.
„Danke“, ich seufzte erleichtert auf. „Sagst du Kay bitte, dass er mich nicht wieder suchen soll?“, bat ich. „Und könntest du mir meine Schreibsachen bringen? Ich möchte den anderen nicht über den Weg laufen.“
Kopfschüttelnd ging Sam ins Haus. Ich dankte ihm im Stillen dafür, dass er meinen Wunsch respektierte und keine weiteren Fragen stellte. Wenig später kam er wieder heraus und reichte mir meine Schreibutensilien. „Hier, los verschwinde! Bis später dann!“
„Danke“, antwortete ich und marschierte schnell los.
So einen Mann wie Sam hätte ich gerne als Vater gehabt , dachte ich, während ich schnaufend bergauf stieg. Mit ihm an meiner Seite hätte ich Veras Launen viel leichter ertragen können.
Wie traurig, dass Sam nun keine Gelegenheit mehr hatte, ein guter Vater für seine eigene Tochter zu sein. Wenn ich an die Kinderzeichnung dachte, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. 'Du fehlst mir, Papa' hatte dort gestanden. Warum hatte Sams Tochter so etwas geschrieben? Hatte sie ihn nur selten gesehen? Hatten Sam und seine Frau sich etwa getrennt?
Ob Sam mir mehr erzählen würde, wenn ich ihn fragte? Aber wie sollte ich ihm Fragen stellen, ohne zu verraten, dass ich in seinen Sachen geschnüffelt hatte?
Ob Henri vielleicht etwas über Sams Geschichte wusste? Ich nahm mir vor, ihn später danach zu fragen. Sams Geschichte beschäftigte mich so sehr, dass ich den Kummer wegen Kay verdrängte. Mein Herz hatte nur einen kleinen Kratzer abbekommen und nicht so einen tiefen Riss wie Sams Herz.
Nach einem anstrengenden Fußmarsch erreichte ich leicht verschwitzt die Vogelstation. Draußen war es immer noch recht warm, sodass mir auf dem Weg bergauf schnell warm wurde. Gestern hatte ich die Wanderung zum Gipfel als nicht so anstrengend empfunden, wahrscheinlich weil ich zwischendurch immer angehalten und Pilze gesucht hatte.
„ Pff“, stöhnte ich und hielt mir die Seiten. An meiner Kondition musste ich wirklich arbeiten. Ich
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