Stachelzart
lesen, denn Vera war den ganzen Tag mit ihrem Schönheitsprogramm beschäftigt.
Und außerdem machte mich Veras „Job“ irgendwie neugierig. Was war das für ein Mann, der in den Bergen ohne Telefon und Internet abgeschnitten von der Außenwelt lebte? Vielleicht würde mich ein Besuch bei ihm irgendwie inspirieren und meine Schreibblockade lösen? Und Vera sollte wirklich nicht mehrere Stunden alleine Auto fahren. Im Moment ging es ihrem Herzen dank Medikamenten zwar recht gut, aber das war dennoch zu gefährlich. Sie nervte mich manchmal zwar sehr, aber sie war die einzige Familie, die ich hatte.
„Ok“, antwortete ich.
„Was? Echt? Einfach so Ok?“, fragte Vera ungläubig.
Ich schmunzelte. Bestimmt hatte Vera sich schon eine seitenlange Überzeugungsstrategie zurecht gelegt und ich hatte diese nun mit meinem „Ok“ überflüssig gemacht.
„Ja! Ich finde auch, du solltest nicht alleine so eine lange Strecke fahren. Und weniger als jetzt kann ich gar nicht schreiben. Vielleicht bringt ein Ortswechsel ja wirklich etwas!“
„Oh, toll! Ich freue mich! Darauf stoßen wir an!“, Vera tätschelte meine Hand. Das war die größte körperliche Zuwendung, zu der sie mir gegenüber fähig war.
Ich prostete ihr zu. Ob meine Entscheidung eine gute Idee war, würde sich zeigen. Ich wagte dies zu bezweifeln, aber was hatte ich schon zu verlieren? Allenfalls würde ich ein paar nervige Tage mit Vera verbringen und keine einzige Seite schreiben.
Zweites Kapitel
Donnerstag, 3. Oktober
Verdammt nochmal! Wieso bekomme ich keinen einzigen anständigen Satz hin?, dachte ich und presste die Finger gegen meine Schläfen.
Dann löschte ich wütend die soeben geschriebenen Worte aus dem Word-Dokument auf meinem Bildschirm.
Das war alles einfach nur Mist! Schlecht, schlecht und noch einmal schlecht! So würde ich die Leser nie von meinem Können überzeugen. Und der Abgabetermin für mein neues Buch rückte immer näher. In spätestens vier Monaten musste ich fertig sein. Das war die absolute Deadline.
Vier Monate hörten sich lange an, aber wer schon einmal ein Buch geschrieben hatte, der wusste, dass vier Monate eine verflucht kurze Zeit waren.
Neben mir auf dem Schreibtisch stapelten sich leere Keksschachteln, zerknüllte Schokoladenverpackungen und Kaffeebecher. Das war mein Dilemma. Wenn ich gestresst war, brauchte ich Zucker. Viel Zucker. Am besten in Form von Schokolade. Und jede Menge Kaffee mit Zucker natürlich. Das Dumme an so viel Zucker war nur, dass er meine Figur total ruinierte. Heute Morgen hatte ich meine Lieblingsjeans nicht mehr zu bekommen. Ich vermutete zwar, dass über Nacht kleine Wichtelmännchen einfach den Hosenknopf etwas weiter nach rechts versetzt hatten, aber beweisen konnte ich meine Theorie nicht.
Ich kratzte mich am Kopf. Meine Haare standen wild in alle Richtungen ab. Ich musste sie dringend mal wieder waschen. Und meine Sachen packen, musste ich auch noch. Morgen in aller Frühe begann der Mutter-Tochter-Kurzurlaub mit Vera. Was sollte ich bloß einpacken?
In den letzten Wochen hatte ich mich total eingeigelt und shoppen war ich schon ewig nicht mehr gewesen. Keine Ahnung, welche Sachen mir momentan überhaupt noch passten. Vor einigen Monaten hatte ich, Anna Schneider, bei einer Körpergröße von 1,65m doch tatsächlich Kleidergröße 36 gehabt. Der Liebeskummer, den ich wegen Alexander hatte und die Arbeit an meinem Fortsetzungsroman „Zitronenherb“ ließen mich das Essen glatt vergessen. Ich hatte auch gar keinen wirklichen Appetit. Hin und wieder eine Gemüsepfanne oder ein Brötchen reichten mir völlig.
Das Einzige, was ich eigentlich immer essen konnte, waren Himbeeren. Ich war absolut himbeersüchtig. Ohne Himbeeren konnte ich nicht leben. Das war eigentlich schon immer so. Schon als Kind liebte ich die kleinen roten Früchte, egal in welcher Form - pur, mit Joghurt oder als Marmelade.
Neuerdings konsumierte ich meine Lieblingsfrucht aber eher in ungesunder Form. Abends als Sektcocktail und tagsüber mit weißer Schokolade. Und dazu die anderen Zuckersachen. Größe 36 hatte ich jetzt bestimmt nicht mehr. Mit viel Glück eine 38 oder eher eine 40.
Das Problem war, dass ich kaum noch Anziehsachen in Größe 38 oder 40 besaß. Denn ob meiner Euphorie über die 36, hatte ich die meisten Kleidungsstücke, die mir zu groß waren, vor ein paar Monaten in einen Secondhand-Laden gebracht. Zuhause vor meinem Computer trug ich sowieso meistens weite
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