Stadt Aus Blut
Weg zur 55th legte ich mir einen Plan zurecht: Hör dir die Geschichte an und vertröste sie auf nächste Woche. Geh danach so schnell wie möglich zur Schule zurück. Setz deine Nachforschungen fort, diesmal, wenn möglich, ungestört. Vielleicht ist ja der Moschusduft des Mädchens noch irgendwo anders im Gebäude oder der Umgebung wiederzufinden. Schließlich ist es ein ziemlich ungewöhnlicher Geruch. Ich muss nur aufpassen, dass mir niemand von der Koalition über den Weg läuft. Und sollten alle Stricke reißen, könnte ich mir immer noch Philip vorknöpfen. Ein guter Plan. Sollte mich weiterbringen. Doch dann stellte sich heraus, dass es sich bei der Frau am Telefon um Marilee Ann Horde handelte.
Sie trinkt einen unglaublich teuren Designerwodka on the rocks . Ich nehme auch einen.
– Sie haben die besten Empfehlungen, Joseph.
– Ich tue nur meine Arbeit. Aber es überrascht mich, dass Mr. Predo gerade mich ausgewählt hat.
Sie lächelt kaum merklich.
– Tja, und jetzt sind Sie hier.
– Hören Sie, Mrs. Horde...
– Marilee.
– Ich glaube nicht, dass das ein Job für mich ist.
– Wovon reden Sie?
– Sie spielen in einer ganz anderen Liga.
– Und was genau ist meine Liga, Joseph?
Sie wirkt etwas schüchtern. Eine gepflegte dreißigjährige Schönheit in einem maßgeschneiderten Sommeranzug in dezentem Rosa, dazu eine frisch gestärkte Leinenbluse. Der einzige Schmuck, den sie trägt, ist ihr Ehering. Nicht einer von den auf der Upper East Side so beliebten Zweikarätern, sondern ein in Platin eingefasster blauweißer Stein von geschmackvoller Größe. Ihr naturblondes Haar ist zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, bis auf drei perfekt platzierte Strähnen, die ihr Gesicht einrahmen und ihren Schwanenhals betonen. Ihren grazilen weißen Schwanenhals. Ich nehme einen großen Schluck Wodka und lehne mich zurück.
– Haben Sie in letzter Zeit mal einen Blick in den Spiegel geworfen, Mrs. Horde?
– Hatte ich Sie nicht gebeten, mich Marilee zu nennen?
– Stimmt. Haben Sie in letzter Zeit mal einen Blick in den Spiegel geworfen, Mrs. Horde?
– Ja.
– Also was, würden Sie sagen, ist Ihre Liga?
Dann blicke ich demonstrativ an mir herab. Ein alter Anzug, ein verknittertes Hemd und abgewetzte Schuhe, die ich eigens irgendwo herausgekramt habe.
– Und was dagegen meine? Jetzt mal ehrlich: Wie können Sie angesichts dessen glauben, ich sei der Richtige für den Job?
Sie setzt ihr Glas ab.
– Ehrlich gesagt glaube ich, dass Sie genau deswegen der richtige Mann sind, Joseph. Meine Tochter ist von zu Hause weggelaufen. Und ich glaube, die Leute, bei denen sie sich aufhält, spielen in Ihrer Liga...
Sie beugt sich zu mir vor.
– Wie Sie sich auszudrücken pflegen.
Die Kellnerin kommt vorbei, und Marilee ordert die nächste Runde.
Das dauert mir alles viel zu lange. Ich hatte eigentlich mit was Einfacherem gerechnet. Erpressung zum Beispiel, Drogen, irgendein kleineres Problem, das ich für sie regeln soll. Aber ein vermisstes Kind? Und Marilee Ann Horde?
Die Hordes gehören zu den großen, alten New Yorker Dynastien. Eine unter den wenigen Dutzend, die die wirkliche Oberschicht Manhattans bilden. Ihr Reichtum stammt aus den üblichen Quellen: Öl, Holz, Eisenbahnbau. Mittlerweile sind sie jedoch bekannter für ihre Biotech-Firma und einen privaten Fernsehsender namens HCN. Soweit ich weiß, krebste Marilee Ann Dempseys Familie ein paar Stufen tiefer in der Nahrungskette rum. Aber irgendwie schaffte sie es, durch ihren exquisiten Stil die Aufmerksamkeit von Dr. Dale Edward Horde zu erregen, dem einzigen Nachkommen und Erben der Hordes, sowie dem Gründer und Geschäftsführer von Horde Bio Tech Inc. Sie sind seit vierzehn oder fünfzehn Jahren verheiratet und eines der Paare in Manhattan, die viel, aber nur wohlwollende Publicity bekommen. Auf jeden Fall keine Schmuddelfotos auf Seite drei. Keine Chance, sie zu vertrösten. Ich muss das verdammte Kind finden, was bedeutet, dass ich hier sitzen bleiben und mir die ganze Geschichte anhören muss. Anstatt den Überträger zu jagen. Die zweite Runde kommt, und ich versuche, nicht ganz so zappelig zu sein.
Sie hat sich zurückgelehnt, hält den Drink mit der rechten Hand auf ihrem Schoß und rührt ab und zu mit dem Zeigefinger darin herum.
– Amanda ist nicht zum ersten Mal weggelaufen. Als kleines Kind – inzwischen ist sie vierzehn – hat sie sich immer so lange in einem Schrank oder im Garten versteckt, bis jemand sie
Weitere Kostenlose Bücher