Stadt aus Sand (German Edition)
für hässliche, löchrige Zähne du hast, du kleines Raubtier, die müssen ja schrecklich weh tun …«, fuhr die Seele erbarmungslos fort.
Rokia kletterte vorsichtig höher und benutzte ihre Krallen, um sich auf den Wurzeln halten zu können. Sie schaute sich um und versuchte einen Hinweis darauf zu erkennen, nach welchem System die Ampullen an dem großen Baum angeordnet waren.
»Wo bist du, Großvater? Wie kann ich dich erkennen? Gib mir ein Zeichen!«
Rokia kam schnell voran. Sie spürte, dass seine Seele hier war. Sie war sich sicher. Und sie würde sie finden, selbst wenn sie jedes einzelne Fläschchen dafür zerbrechen musste. Blaue, grüne, gelbe, rote Fläschchen. In der Dunkelheit des Zimmers fiel es ihr schwer, die Farben der Ampullen zu unterscheiden. Aber sie waren unterschiedlich gefärbt. Und Farben hatten etwas zu bedeuten. Ihr Großvater hatte sich das Gesicht mit roter Farbe bemalt, ehe er in Tamanè zu singen begonnen hatte.
Und jetzt kletterte Rokia weiter, um einmal zu probieren, eine rote Ampulle zu zerbrechen. Sie hörte Raogo hinter sich jaulen und sah, wie der Fennek sich bemühte, sie einzuholen. Und dass eine Seele hinter ihm herkam, die unablässig auf ihn einredete.
Rokia machte einen weiten Satz von einer Wurzel zu einer anderen und schwebte dabei einen unendlich langen Moment im Leeren. Dann kletterte sie weiter. Die Silberkettchen klingelten, wenn sie an ihnen vorbeikam, als wollten sie ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken, doch das Mädchen war fest entschlossen, als Nächstes eine rote Ampulle zu zerbrechen. Sie war so auf ihr Ziel konzentriert, dass sie, als Raogo hinter ihr auf dieselbe Wurzel sprang, auf der sie bereits stand, plötzlich das Gleichgewicht verlor und ihre Krallen keinen Halt mehr fanden.
»Raogo!«, knurrte sie erschrocken und versuchte, sich an einer anderen Wurzel festzuklammern.
Sie schaffte es nicht. Rokia fiel, schlug mit dem Kopf gegen die darunterliegenden Wurzeln und fiel noch tiefer.
Dann verlor sie das Bewusstsein.
Sie erwachte zwischen den Wurzeln des Baobabs und war immer noch ein Fuchs.
Doch der Baum hatte sich verändert: Es war auf einmal ihr Baobab, der aus ihrem Dorf!
Träumte sie etwa?
Am Himmel zogen Wolken vorüber, die wie Fische aussahen, oder Fische, die wie Wolken aussahen. Er war grün wie der Lauf des Niger. Und die Falaise wogte hin und her, als ob sie aus Algen bestünde.
Sie träumte. Ganz eindeutig.
Rokia war glücklich, wieder zu Hause zu sein, obwohl alles natürlich nur ein Traum war. Sie schnupperte an dem Zug roter Ameisen, der sich am Stamm emporschlängelte, dann rannte sie zur Palisade. Als sie über den Hauptplatz lief, bemerkte sie, dass die Tür vom Haus des Hogon nur angelehnt war.
Sie trottete hinein und rollte sich zu Füßen des Hogon zusammen. Setuké schlief auf seinem Bett, und Rokia konnte sehen, was er träumte: da war ein Kreis von brennenden Fackeln, die die Palastwachen in ihren Händen hielten.
Rokia wandte sich erschrocken ab. Sie verließ die Hütte und bemerkte, dass jemand ein exaktes Muster von einigen Quadraten in den Sand vor Setukés Hütte gezogen hatte.
Sie lief nun nach Hause und musste dabei auf den Wegen über lauter schlafende Leute springen. Vor dem Mangobaum sah sie Ogoibélou mit einem Gewehr in der Hand. Ihr Bruder träumte von nichts.
Immer besorgter sprang Rokia über die rote Stufe in ihren Hof.
Durch den offenen Vorhang schlüpfte sie in die Hütte ihrer Brüder: Serou und Eléou schliefen und träumten. Serou glaubte, ein gelbgefiederter Vogel zu sein, während Eléou an einem Fluss entlanglief und mit einem Ast einen Ball verfolgte, der auf der Wasseroberfläche schwamm.
Wo war Inogo?
Sie suchte nach Zouley, die sich im Schlaf heftig hin- und herwälzte.
»O nein, Mama … Nein …«, flüsterte Rokia, obwohl ihre Worte Zouleys Traum nicht erreichen konnten.
Zouley schlief und umklammerte Rokias kupferne Armreifen, neben ihrem Bett lag Inogos Speer. Sie träumte von ihnen beiden. Sie träumte, dass Rokia und Inogo zwischen glühenden Dünen umherliefen, dabei war Rokia viel schöner als in Wirklichkeit und ihr Bruder viel größer und stärker.
Rokia kauerte sich vor ihre Mutter und leckte ihre Hand, bis die Dünen nicht mehr so glühten und das Gesicht der Frau sich entspannte.
Dann bewegte sie sich durch einen Haufen von Johannisbrotfrüchten und frischem Stroh aus Napoleons Traum und stieß schließlich mit ihrer Schnauze die Tür zu Matukés Hütte
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