Stadt aus Sand (German Edition)
auf.
Ihr Großvater schlief nicht wie alle anderen.
Er saß auf seinem Bett und lächelte sie an.
»Großvater!«, rief Rokia und rannte auf ihn zu.
Matuké drückte sie vorsichtig an sich und kraulte sie hinter den Ohren. »Hallo, Rokia …«
»Du kannst mich hören?«, wunderte sich das Fuchs-Mädchen und kauerte sich zwischen seine Knie.
»Sicher kann ich dich hören. Wir sind schließlich in einem Traum. Und in den Träumen kann man das tun, was man will!«
Der Fennek lächelte und ließ die Zunge heraushängen.
»Ich habe es nicht geschafft, deine Seele wiederzubekommen, Großvater«, entschuldigte er sich.
»Ich weiß, Rokia. Ich weiß. Aber mach dir keine Gedanken. Du hast mehr getan, als wir uns hätten erhoffen können.«
»Er … der Fürst …«
Als sie diese Worte sprach, wurde das Bild ihres Großvaters etwas brüchig, wie ein Mosaik, das auseinanderfiel.
»Großvater?«
Das Bild festigte sich wieder, und er streichelte sie gelassen. »Nichts passiert. Ich war nur ein bisschen … müde, Rokia. Aber hier können wir uns in aller Ruhe unterhalten. Wir können auch seinen Namen aussprechen. Hier kann uns Sanagò nicht erreichen. Er hat vor vielen Jahren den Träumen entsagt, als er aufgehört hat zu schlafen. Hier bestimmen immer noch wir, was geschehen soll …«
Mit einer Handbewegung ließ er in der Hütte einen Pfau mit leuchtenden Schwanzfedern erscheinen, der durch die Ziegelwand aufflatterte. Ein Springbrunnen füllte den Fußboden mit seiner silbern schimmernden Oberfläche, auf der Wasserflöhe herumhüpften.
Rokia lachte, und die Visionen ihres Großvaters verschwanden.
»Sanagò hat Angst vor uns, denn Menschen wie wir können die Traumwelt all derer bereichern, die gern träumen. Manchmal erschaffen wir Welten, die gar nicht existieren …«
Rund um Rokia erschienen nun winzige märchenhafte Bauten, die den Teppich mit gewagten Brückenkonstruktionen und Bögen überzogen.
»Oder wir halten einfach nur die Erinnerung an unsere Ahnen lebendig …«
Draußen vor dem Fenster sahen unbekannte Menschen in die Hütte. An der Tür erschien ein Mann in schlichten weißen Hosen mit weitem Bund. Am Hals trug er eine Kette mit Bernsteinstücken, die genauso aussahen wie die ihres Gris-gris .
Matuké fuhr fort: »Alle träumen. Selbst die Tiere. Und die Pflanzen. Und wir Geschichtensänger sind das Öl, das die Träume zum Fließen bringt. Das Wasser, das ihre Früchte zum Keimen bringt. Das Tuch, das sie vor der Kälte schützt. Dazu brauchen wir unsere Erinnerungen und unsere Lieder.«
Wieder streichelte er ihre Ohren. »Und du warst die Beste von uns.«
»Aber ich habe doch gar nichts erreicht, Großvater! Ich wurde in einen Fuchs verwandelt und bin im Palast des Sandfürsten gefangen! Ich kann nicht einmal deine Seele retten!«
In ihrem Traumdorf hörte man einen heftigen Windstoß, und das Dach der Hütte flog weg, eingesaugt von dem Maul eines Wolkenfisches. Doch Matuké schien es gar nicht zu bemerken, als ob die Sache ihn nichts anginge. Er sprach ganz ruhig mit ihr weiter. »Das Wichtigste ist nicht, mich zu retten, sondern das ganze Dorf. Und vielleicht gelingt es uns noch. Hör mir gut zu, meine Kleine, denn es gibt nur einen Weg, den Fürsten der Stadt aus Sand zu besiegen.«
Dann fielen die Wände der Hütte um sie herum zusammen wie Pappkulissen eines Puppentheaters, und auch sie wurden von dem Wolkenfisch eingesogen. Genau wie all die anderen Hütten des Dorfes.
»Was muss ich tun?«, fragte Rokia im Traum.
»Du musst den Gesang benutzen. Du musst dich an seinen Namen erinnern und ihm etwas abnehmen, nämlich …«
Bei diesen Worten löste sich Rokias Traum auf, da auch Matuké von einem Wolkenfisch verschlungen wurde.
Als sie die Augen öffnete, wurde ihr klar, dass das Maul des Wolkenfisches Raogos Schnauze war, der sie heftig ableckte.
Sie lag wieder unter den Wurzeln des Baobabs.
Sanagò.
Sanagò.
Sanagò.
Inogo sagte sich diesen Namen immer wieder vor, während er auf dem Hochplateau der Falaise am Abgrund entlanglief. Er schaute zu den beiden Zwillingssternen auf und lief vorwärts. Er fühlte, wie die Sternbilder am Himmel umeinander kreisten. Und hörte das nächtliche Flüstern der Ebene.
Wie lange lief er schon?
Er wusste es nicht genau: Seine Beine schmerzten, seine Brust war schweißüberströmt, aber er spürte keine Müdigkeit. Er hätte die ganze Nacht hindurch laufen können. Er hätte auf ewig so weiterlaufen können. Inogo war
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