Stadt aus Sand (German Edition)
blendendem Weiß. Dieser Palast wirkte so majestätisch, dass man kaum glauben konnte, er sei von Menschenhand erschaffen worden. Er war viel größer als alles, was Rokia je gesehen hatte. Größer als die Falaise . Und imposanter als die Wurzeln des Baobabs aus der Sicht der roten Ameisen.
Seine Mauern wirkten, als gäbe es dort überhaupt keine Fenster, Türen oder andere Öffnungen. Sie erhoben sich gerade und gleichförmig. In der Höhe wurden sie von zyklopenhaften Zacken gekrönt, wodurch sie wirkten wie der Kiefer eines riesigen Monsters. Auf jeder Seite gab es fünf viereckige Türme, deren spitze Dächer die umlaufenden Wehrgänge schützten.
Trotz der Entfernung konnte Rokia das riesige Eingangstor genau erkennen, das sich unter dem mittleren Hauptturm wie ein Schlund öffnete. Es wirkte, als könnte es die anderen Gebäude in der Stadt verschlingen, und doch füllte es nur einen kleinen Teil der Mauer aus, in die es eingelassen war.
»Schön, nicht?«, bemerkte Ayad, den der Anblick des Palastes ebenfalls schwer beeindruckt hatte.
Rokia schwieg weiterhin und wartete, bis das übelkeiterregende Schwanken Manets sie langsam in die Wirklichkeit zurückbrachte. Aber das war nicht so einfach, da die wahren Ausmaße des Palastes stetig deutlicher wurden, je mehr sie sich der Stadt aus Sand näherten. Auf den umlaufenden Wehrgängen konnten zehn Menschen nebeneinander gehen, und die Türme wurden durch Aussparungen für Feuerbecken unterteilt. Aus den Mauergraten ragten die Spitzen von Baumstämmen mit schwarzer Rinde und wirkten wie dichte, ineinander verwachsene Wälder. Und das Tor, durch das ab und zu Sandwirbel nach draußen wehten, wurde immer größer.
Als sie den Fluss erreichten, konnte Rokia Details an den Häusern erkennen: Fenster, Dächer, Terrassen. Und dann sah sie die großen Zelte der Karawansereien außerhalb der Stadt. Die Menschen, die sich dort tummelten und auf dem Weg zu einem der riesigen Zugangstore in die Stadt aus Sand waren, sahen wie kleine Fliegen aus. Vor dem Südtor hatte sich eine lange Schlange von Leuten gebildet, die darauf warteten, endlich eingelassen zu werden.
Ayad rümpfte die Nase, dann drehte er sich zu Rokia um und befahl ihr leise: »Folge mir und sei still, verstanden?«
Er holte unter dem Sattel eine kleine Peitsche hervor, schlug damit hinterrücks sein Dromedar und schrie laut auf: »Oooh nein, Manet, halt!« Dabei hielt er im Galopp auf die Stadtmauern zu.
Rokias Dromedar tat es seinem Kollegen nach, ohne dass das Mädchen irgendetwas tun musste.
Sie stürmten in einer Staubwolke nach vorn, und sobald sie die Menschen und Tiere erreichten, die dort in einer langen Reihe in der Sonne standen und warteten, verstärkte Ayad seine verzweifelten Schreie: »Willst du wohl stehen bleiben, du verdammtes Vieh! Brrr! Halt!«
Doch inzwischen zog er an etlichen Menschen vorbei, was ihm wütende Flüche einbrachte. Bei jeder Beschimpfung lüftete der gerissene Händler demütig seinen Hut aus Krokodilleder, den er für diese Gelegenheit aufgesetzt hatte, und entschuldigte sich im Namen seines Tiers, gestikulierte wie ein Wahnsinniger in dem offensichtlichen Versuch, es anzuhalten, aber heimlich trieb er es mit seiner kleinen Peitsche noch an.
Rokia folgte ihm im Galopp und wich den Leuten aus, die aus der Reihe getreten waren, um Ayad hinterherzuschimpfen: »Entschuldigt! Achtung! Entschuldigt!«
Da gab es Levantiner mit olivfarbenem Teint und Tuaregs aus der Wüste in ihren weißen Gewändern und mit ihren blauen Turbanen, die nur einen Spalt für die Augen frei ließen. Sie überholten einen Mann, der mit Affen handelte und zwölf kreischende Paviane an einer Kette mit sich führte, und eine exotisch wirkende, weißlackierte Sänfte, die von vier halbnackten Männern getragen wurde.
Rokia galoppierte an dem ersten Jeep vorbei, den sie in ihrem Leben sah, kreuzte dabei den Blick eines Mannes, dessen Haut so weiß war wie die eines Geistes und der sie mit dem runden Objektiv seiner Kamera einfing. Ein Pelzhändler holte mit seiner Machete nach ihr aus, während ein Verkäufer von Eisblöcken ihr nur resigniert hinterherblickte, bevor er sich wieder dem Schlammloch zuwandte, das sich um seinen leckenden Eiskasten gebildet hatte.
Dazu war ununterbrochen Ayads Geschrei zu hören. Der Tablier stand auf seinem Sattel, hielt einen Krummsäbel in der Hand und wirkte ziemlich angriffslustig.
»Brr! Halt! Du willst mich umbringen, Manet, du willst mich umbringen! Wirst
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