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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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mir zupfte verlegen am Bordürenbesatz ihrer Ärmel herum, während der Großmeister demonstrativ etwas in dem Stapel Unterlagen auf seinem Schoß suchte.
    Ich biss mir auf die Lippe. Was hatte das zu bedeuten? Hatte ich etwas falsch gemacht? Etwas Falsches gesagt? Was hatten die Leute denn plötzlich?
    Es war Suttini, der schließlich das Schweigen brach und so tat, als hätten Marian und ich nie etwas gesagt. »Das alles ist doch Blödsinn!«, rief er. »Alle Schlafenden aufwecken! Unsere gesamten Mittel einem Wissenschaftler für die Erforschung des Nichts zur Verfügung stellen! Wir wollen den Arbeitern helfen und die brauchen uns jetzt, meine Damen und Herren. Denken Sie nur an die Hungeraufstände. Allein im letzten halben Jahr gab es drei von ihnen.«
    »Und mal davon abgesehen: Wenn es keine Schlafenden mehr gäbe, würde auch niemand mehr für uns arbeiten«, warf die Frau mit dem Blütenhut ein.
    Hinter mir keuchte Marian auf. »Ach?«, stieß er hervor. »Das ist also das Problem. Wir sitzen hier zusammen und tun so, als wollten wir das Leben der Arbeiter verbessern, aber in Wahrheit geht es nur darum, die Schlafenden zu besänftigen. Wir geben ihnen also ein bisschen Suppe, damit sie satt genug sind, um weiter für uns zu schuften? Und das, obwohl niemand in dieser Welt essen muss. Wir wissen genau, dass die Unterernährung der Schlafenden mit ihrer seelischen Auslaugung zusammenhängt. Aber wir wollen sie belügen, damit sie sich nicht gegen uns erheben?«
    »Stopp, Marian«, sagte die Dame bestimmt und mit einem Mal mit deutlich lauterer Stimme. »Jetzt schießt du über das Ziel hinaus. Wir denken immerhin auch über alternative Methoden der Energiegewinnung nach und –«
    »Ich verstehe es nicht«, rief Marian. »Ich meine, sie sitzt hier mitten unter uns! Und sie wird sich erinnern, vielleicht sogar schon bald. Denkt doch an die Möglichkeiten –«
    »Genug!«, donnerte nun auch der Großmeister. »Die Hälfte der Anwesenden hier hat keine Ahnung, wovon du sprichst. Und du solltest besser keine Gerüchte mehr in die Welt setzen. Flora ist nun eine Wandernde und mehr braucht uns im Augenblick nicht zu interessieren.« Er sah Marian eindringlich an. Es schien ihm große Mühe zu bereiten, seinen Zorn darüber, dass Marian beinahe vor einem Haufen Uneingeweihter die Sache mit dem Weißen Löwen erwähnt hätte, vor den Leuten zu verbergen. »Es reicht jetzt, Marian«, sagte der Großmeister gefährlich leise. »Hast du mich verstanden?«
    »Allerdings«, knurrte es hinter mir. Hastige Schritte entfernten sich, dann fiel die Flügeltür des Saals mit einem Krachen ins Schloss. Ich hörte noch, wie der Großmeister auf die Suppenküche zurückkam, dann war auch ich draußen. Erleichtert, all den Menschen entflohen zu sein, trat ich in den stillen Flur hinaus. Meine Füße versanken im zentimeterdicken Flor des Teppichs.
    Marian lehnte mit geschlossenen Augen an der gegenüberliegenden Wand.
    Langsam trat ich auf ihn zu.
    Seine Haut schimmerte weiß und gespenstisch im Halbdunkel des Gangs. Er stand leicht vornübergebeugt, in sich zusammengesunken. Die Hände hielt er flach an die Vertäfelung hinter sich gepresst.
    Mein Kopf schwirrte von der Diskussion im Marmorsaal, von der ich nicht einmal die Hälfte verstanden hatte, und dem seltsamen Verhalten der Leute. Doch in diesem Augenblick dachte ich an nichts anderes als die halbmondförmigen Schatten, die Marians Wimpern auf seine Jochbeine malten. Mein Herz pochte und der Gedanke, ihm nahe zu sein …
    Was war nur in mich gefahren? Hatte Marians Geständnis auf der U-Bahn-Rolltreppe etwa dafür gesorgt, dass die Gefühle meiner Seele aus dem Vergessen zurückgekehrt waren? Oder stand ich, die wahre Flora, nun ebenfalls auf diesen bleichen blonden Jungen? Konnte es sein, dass …
    Meine Gedanken verpufften, denn mit dem nächsten Schritt stand ich vor ihm, so dicht, dass ich die Wärme seines Körpers spürte, und auch Marian entging meine Anwesenheit nicht. Ohne die Augen zu öffnen, beugte er sich weiter vor. Seine stoppelige Wange glitt über meine, seine Lippen streiften mein Ohrläppchen wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
    Ich erschauderte.
    »Flora«, murmelte er und zog mich an sich, hielt mich wie ein Ertrinkender, der sich an einen Rettungsring klammert. Ich ließ es geschehen und schmiegte mich in seine Umarmung, genoss die Wärme, seinen Duft. Irgendwo in den hintersten Windungen meines Gehirns fragte ein kreischendes Stimmchen, was

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