Stadt der blauen Paläste
an den Männer gehen, die eine Frau brauchen und keine zur Hand haben, wenn sie eine brauchen«, sagte Ludovico brüsk.
Eine Weile war Stille. Sie saßen vor den Bruchstücken eines Lebens, das vor ihrer Zeit stattgefunden hatte und an dem sie keinen Anteil hatten.
»Weshalb wirft sie sie weg, diese Briefe?«, fragte Bianca ratlos, als sie das Zimmer verließen.
»Was soll sie denn sonst damit tun?«, erwiderte Ludovico grob, »etwa auf sein Grab legen? Ein Grab, zu dem sie vermutlich pausenlos pilgert, ohne dass wir es wissen?«
Niemand von ihrer Familie wusste, dass Crestina nicht an Riccardos Grab gewesen war an jenem Tag, an dem sie völlig durchnässt in den Palazzo zurückkehrte. Zwar war sie aufgebrochen mit dem Vorsatz, dorthin zu fahren, aber dann hatte sie die Idee so lange in ihrem Kopf gewälzt bis sie verwässert, abgestanden und unbrauchbar geworden war. Sodass ihr nichts anderes geblieben war, als stundenlang durch den Regen zu rennen und zu grübeln.
Sie hatte tausend Ängste ausgestanden, wie sie den Ort vorfinden würde, den sie damals verlassen hatte, als sie Riccardo begraben hatten. Lazzaretto vecchio. Oder etwa lazzaretto nuovo? Für einen Augenblick war sie sogar unsicher gewesen, welche der beiden Inseln die Pestinsel gewesen war und welche die Quarantäneinsel, auf der sie später als Pflegerin den Kranken geholfen hatte. Sie hatte sich bemüht, in ihrem Kopf Klarheit zu schaffen, wie oder wo Riccardo gestorben war, obwohl sie natürlich genau wusste, dass es in jenem finsteren feuchten Gang gewesen war, in welchen sie ihren Bruder gebracht hatten, nachdem er in dem großen Krankensaal unruhig geworden war und seine Albträume die übrigen Kranken gestört hatten.
Sie hatte sich an ihre Gespräche erinnert. Ihre Gespräche über das, was sie sich nie erlaubt hatten, weil es jenen schrecklichen Namen hatte: Blutschande. »Weshalb hatte es keinen anderen Namen haben können, ›Stern unserer Zärtlichkeit‹ zum Beispiel«, hatte sie ratlos gefragt.
Dann wieder hatten sie über dieses Nürnberg gespottet, das überhaupt nur halbwegs erträglich gewesen war, weil es Margarete damals gegeben hatte, die aus dieser schrecklichen Familie ausgebrochen war.
Und wieder über die Seele. Sie hatte ihm Platos Gastmahl vorgelesen, ja vorlesen müssen, weil Riccardo es sich gewünscht hatte. Die Stelle mit dem Menschen, der das Gegenstück ist zum anderen, weil sie wie die Schollen aus einem Stück in zwei Hälften geteilt werden und dass die Hälften nun ewig die jeweils andere suchen.
Und mit den albernen Nürnberger Sprüchen, die auf dem Kachelofen gestanden hatten, hatten sie sich die Zeit vertrieben: »Nachlässigkeit in allen Dingen, wird dich in großen Schaden bringen.«
»Eigensinn und Aberglauben können jede Lust dir rauben.«
»Wie man die Aussaat hier bestellt, so erntet man in jener Welt.«
Manchmal dachte sie, sie würde sich besser fühlen, wenn sie wenigstens ihrem ältesten Sohn von Riccardo erzählen würde, so, wie es wirklich gewesen war. Wenn sie dadurch verhindern konnte, dass ihre Kinder sich in etwas verrannten, was sie ihre Mutter hassen ließ. Aber sie war unfähig dazu. So unfähig, wie in jenen Raum zu gehen, den sie seit ihrer Rückkehr nicht mehr betreten hatte, obwohl sie es manchmal nicht ertrug, ihn dort oben zu wissen. Verborgen hinter dicken Schränken, die niemand verschieben konnte.
»Sie muss unter dem Dach sein, irgendwo«, sagte Ludovico hartnäckig, als er sich zusammen mit seiner Schwester einige Tage später erneut auf die Suche begab, diese geheime Kammer zu finden. Aber nach etlichem vergeblichen Suchen wehrte sich Bianca, weitere Treppen emporzusteigen.
»Sie muss in einem der Seitengänge sein, da, wo unser Großvater einst seine Mumien aufbewahrte.«
Bianca schüttelte sich.
»Du kannst allein weitersuchen, ich habe kein Verlangen nach Mumien. Und außerdem habe ich auch keine Zeit.«
»Es gibt doch keine Mumien mehr«, sagte Ludovico und tippte sich an die Stirn. »Und überdies ist er heute Nachmittag ohnehin nicht im Haus. Also hast du Zeit.«
Bianca starrte ihren Bruder an.
»Wer?«
»Nun, wer wohl? Der Mann, den du dir ganz gewiss nicht einfangen kannst, auch wenn du ihn inzwischen auf Schritt und Tritt verfolgst. Und alles nachahmst, was es nur nachzuahmen gibt. Ich frage mich schon, ob du dir nicht inzwischen überlegst, wie Juden schlafen, auf der linken Seite ihrer Schlafbank oder auf der rechten. Ich sag's ja niemandem weiter«,
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