Stadt der Engel
hatte uns lange schon angeboten, uns durch die Slums von Los Angeles zu führen, in die wir, das sagten uns alle, auf keinen Fall alleine fahren sollten. Ich hatte eine neue Begleiterin: Therese, die ich erst wenige Tage kannte und mit der ich schon vertraut war wie mit einer alten Freundin, eine Journalistin, die war aus Deutschland herübergekommen, um für eine deutsche Zeitung über die anstehende Wahl des Bürgermeisters von Los Angeles zu berichten. Sie war oft hier gewesen, sie war süchtig nach dieser Stadt. Sie schien jedermann zu kennen, jeder kannte sie. Sie würde auf jeden Fall mit Ann und mir in die für Weiße verbotenen Stadtviertel mitfahren. Strahlend begrüßte sie die Gegenden, durch die wir fuhren, gewisse Straßenkreuzungen, einzelne Gebäude. Therese war Ende vierzig, blond, schlank, hatte kurzgeschnittenes Haar, graue Augen, über denen ein Schleier lag, der sich, je länger sie in der Stadt war, um so mehr auflöste. Als wir mit Anns altem Peugeot auf den Freeway auffuhren, seufzte Therese vor Glück. Sie würde mich in einen neuen Freundeskreis einführen, aber das wußte ich da noch nicht.
Ann wohnte an der Santa Fe Avenue in einer Künstlerkommune, die in einer ehemaligen Fabrik eingerichtet war und in die Künstler aufgenommen wurden, die unter 25 000 Dollar im Jahr verdienten. Das Areal war durch einen hohen, unbezwinglichen Zaun und durch ein kompliziertes Einlaßsystem abgesichert, nur mit einem bestimmten Zahlencode ließ sich das schwere Tor öffnen. Leider nötig, sagte Ann, wir wohnen ja hier in einem extrem unsicheren Viertel. Nicht daß ihr denkt, man könnte hier einfach draußen spazieren gehen. – Bedrückt dich das nicht? fragte ich. Ann sagte, der Mensch gewöhne sich an alles. Und nirgendwo sonst in dieser Stadt könnten sie zu erschwinglichen Mieten so große Apartments und Ateliers finden.
Ich mußte ihr recht geben. Riesige, hohe Räume, Platz für eine Art Dauerausstellung ihrer Fotos an den Wänden und anSchnüren, die kreuz und quer gespannt waren, Platz für eine Dunkelkammer, eine Küchenecke und einen Wohnbereich mit Tisch, Sesseln und einer Musikbox. Hier läßt es sich leben, sagte Therese, und wir beiden anderen sahen uns an: Therese wünschte es sich, so leben zu können.
Auf dem Hof zwischen den Gebäuden hatten die Bewohner ein Kakteenfeld angelegt, eine Malerin winkte uns in ihr Atelier, um uns die Nachahmungen der pompejanischen Wandzeichnungen zu zeigen, die sie für einen zahlenden Auftraggeber gemacht hatte. Ein Glücksfall.
Dann aber gerieten wir in die Unterwelt. Direkt gegenüber dem Künstlerareal, jenseits einer breiten Straße, führte uns Ann den riesigen Müllplatz vor, der sich bis an den Horizont erstreckte, teilweise eingeebnet zu einer Art Mondlandschaft, über die der Wind ging und Staubwolken und kleinere Abfallstücke vor sich hertrieb. Ich erhob keine Einwände mehr gegen eine solche Nachbarschaft, die niedrigen Mieten für die Künstler erklärten und entschuldigten alles. Zwei Männer kamen auf uns zu, Ann kannte sie, die leben auf der Müllkippe, sagte sie, die bauen sich aus den Holz- und Metallabfällen ihre Buden. Die beiden hatten etwas in den Händen, was ich nicht erkennen konnte, was sie uns aber anscheinend zum Kauf anboten. Heute nicht, sagte Ann freundlich, die beiden winkten ihr zu und zogen friedlich ab.
Sie fuhr mit uns Richtung Downtown, durch immer verwahrlostere Viertel. Hier würde sie auch niemals aussteigen, sagte Ann. Gruppen von homeless people hockten an Häuserwänden, am Straßenrand, nur wenige bewegten sich. Alles Schwarze. Verwüstete Straßen. Ann hatte ein bestimmtes Ziel, sie verabredete sich mit jemandem über ihr Handy. Wenn ich anhalte, sagte sie, dann steigt ihr aus und lauft so schnell ihr könnt zu dem einzigen Laden, der eine heile Schaufensterscheibe und eine ordentliche Tür hat, die wird man euch öffnen, und ihr geht ganz rasch rein. So geschah es. Ein junger Mann hatte hinter der vergitterten Tür auf uns gewartet, öffnete siekurz und zog uns hinein. Ann hatte es nicht ganz geschafft, ein Mann hatte sich ihr an die Fersen geheftet, sie kaufte sich mit einer Zigarette los, dann noch mit einem Dollar, witschte zu uns herein, der Mann preßte von draußen seine Wange an die Scheibe, zeigte mit dem Finger auf einen Punkt, Ann küßte diesen Punkt auf der Wange des schwarzen Mannes durch die Scheibe. Dann war er zufrieden und ging.
Wir befanden uns in einer Oase mitten in der Wüste. Der
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