Stadt der Engel
junge Mann war zu einem Anlaufpunkt für homeless people geworden. Er hatte den rückwärtigen Teil dieses Raums, der durch starke Gitter gesichert war und in dem er selbst malte, als Werkstatt eingerichtet, in der Obdachlose Holzspielzeug bauten, schöne Dinge in einfachen Formen, die sich gut verkaufen ließen, weil es sonst nur Plastikspielzeug gab. Von dem Erlös, sagte er, und das ist das Wunder, kaufen sie sich nicht Schnaps. Sondern Werkzeug und Material, um weiter bauen zu können. Wichtig sei, daß sie nicht bedrängt, nach nichts gefragt, von nichts überzeugt würden, daß sie kommen und gehen könnten, wann sie wollten, auch wegbleiben und nach längerer Zeit wiederkommen. Daß man sie einfach akzeptiere, wie sie seien. Und daß sie, manche von ihnen, dieses Angebot annähmen, sei das zweite Wunder.
Ann hatte das Bedürfnis, die Düsterkeit ein wenig aufzuhellen, sie fuhr uns durch die Mexikanerviertel, die sie besonders liebte, in denen sie einkaufte, die arm, aber sehr bunt und lebendig waren. Wir aßen unseren Lunch in einem Restaurant, das Serenata de Garibaldi hieß, und Therese deutete an, daß diese Stadt, Los Angeles, etwas wie ein Fluchtort für sie war, nein, sagte sie auf eine halbe Frage von Ann, sie sei immer noch nicht getrennt von ihrem Mann, er halte sie immer noch mit der Behauptung, daß er ohne sie zugrunde gehen würde. Ann sagte, sie würde es darauf ankommen lassen.
Der Nachmittag ging zur Neige, wir fuhren noch einmal nach Downtown, durch die Viertel der Armen. Jetzt sammelten sich überall um die missions, die kirchlichen Sammelstellen,und um die public shelters, die von der Stadt eingerichtet waren, wie um Magneten die homeless people, um vor der Nacht einen Teller Suppe und für die Nacht einen Unterschlupf zu finden. Jetzt sah man erst, wie viele es waren, eine grauschwarze düstere Masse, zu Schlangen aufgereiht. Fast alle schwarz, viele Gesichter schon ausdruckslos. Ein einziges Paar saß im Rinnstein beieinander, jüngere Leute, sie lachten, ich hielt sie für ein Liebespaar und machte Ann auf sie aufmerksam. Die sagte, ein Liebespaar? Nun ja, vielleicht. Aber man könne keineswegs sicher sein, ob der junge Mann nicht einfach ihr Zuhälter sei. Übrigens habe sie längst aufgehört, in diesen Vierteln zu fotografieren, nicht nur, weil es gefährlich sei. Ich verstand, daß ein Schamgefühl sie davon abhielt, diese Menschen in ihrer Erniedrigung zu dokumentieren. Statt dessen fotografierte sie uns privilegierte Gäste des CENTER auf möglichst vorteilhafte Weise, um die vergrößerten Fotos als eine Art Galerie im Flur des sechsten Stockwerks aneinanderzureihen. Ich konnte diese Ausstellung nur noch als obszön empfinden.
Maßlos erschöpft kam ich nach Hause, ins ms. victoria , das sein Gesicht verändert hatte. Das mir nicht nur wie eine Oase, auch wie eine Trutzburg vorkam, eine Verteidigungsbastion gegen das Elend dieser Stadt, gegen das wir ohnmächtig waren. Ich lief zwischen Küche und Apartment hin und her, ich konnte mich nicht an die Maschine setzen, konnte nichts aufschreiben, aß wenig und trank gegen meine Gewohnheit schnell hintereinander zwei Whiskey, ohne daß ich eine Wirkung spürte. Dann nahm ich die Post aus meinem indischen Beutel, die ich morgens noch im CENTER abgeholt hatte, ohne sie anzusehen, und blätterte sie durch. Ein Fax war dabei, ein Artikel, gedruckt in einer angesehenen deutschen Zeitschrift, von einem angesehenen Journalisten, den ich leider aus Unachtsamkeit las. Er übertraf alles bisherige, alles, woran ich mich in den letzten Tagen fast gewöhnt hatte. Ich fühlte, daß ich in eine andere Luft geraten war, in eine wirkliche Gefahr, der ich nicht ausweichen konnte, ich mußte in dieser Nacht eine Entscheidung treffen.
Ich will mich erinnern, was ich in jener Nacht gemacht habe, über die ich nichts aufschreiben konnte. Ich bin ins Bett gegangen. Ich habe mir das Gedicht des heiligen Fleming mitgenommen. Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren . Ich wiederholte jede Strophe, bis ich sie im Schlaf konnte. Es war aber erst Mitternacht. Was jetzt.
DA FING ICH AN ZU SINGEN
DA FING ICH AN ZU SINGEN Ich habe diese Nacht durch gesungen, alle Lieder, die ich kannte, und ich kenne viele Lieder mit vielen Strophen. Zweimal trank ich noch einen Whiskey zwischendurch, aber ich wurde nicht betrunken. Mehrmals klingelte das Telefon, ich wußte, wer da so inständig versuchte, mich zu erreichen, aber ich nahm nicht ab. Ich sang An jenem Tag
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