Stadt der Engel
sich wissen, das kann einen ja auch zur Verzweiflung treiben, sagte Peter Gutman, der Mensch von heute.
Spielverderber.
Emily rettete die Situation. Sie erhob ihren Weisheitsstab, murmelte ihre pythischen Sprüche, blickte aus unseren Fenstern des elften Stockwerks weit hinaus auf das im blassen Mondschein glitzernde Meer und verkündete: Die Menschen werden es lernen, alles über sich zu wissen und das dazu zu verwenden, einander behilflich zu sein.
Wie langweilig! rief Ria. Man versprach ihr, die Konflikte würden nicht aufhören. Erst dann würde es die lohnenden Konflikte geben: Nämlich die zwischen den einzelnen Menschen in ihrer Verschiedenheit. Nicht nur die zwischen Reich und Arm, Hoch und Niedrig, Gläubig und Ungläubig.
Das kannte ich doch. Fing noch mal alles von vorne an?
Francesco dirigierte uns an einen freien runden Tisch, etwas abseits, direkt hinter der breiten Fensterfront. Auf einmal hatten wir den Trubel des Festes im Rücken und konnten reden, als wären wir in einem abgeschlossenen Raum. Ich erinnere mich, daß währenddes der große runde Theatermond seinen vollkommenen Bogen über dem glitzernden Meer beschrieb, ich verlor ihn nicht aus den Augen.
Zum ersten Mal setzte sich Stewart zu uns, der einzige schwarze Stipendiat im CENTER, der später als wir alle gekommen war und sich bis jetzt immer abgesondert hatte. Ich begriff auf einmal, daß wir uns ihm gegenüber genau so gehemmt verhalten hatten wie die anderen in letzter Zeit mir gegenüber: aus Unsicherheit. Das konnte ich plötzlich aussprechen. Stewart schien überrascht, nicht gekränkt, beinahe amüsiert, die anderen gaben zu: Ich hatte recht. Stewart arbeitetean einer soziologischen Studie über die schwarze Community in Los Angeles, er hatte, als er sein Projekt erläuterte, keinen Zweifel an seiner radikal ablehnenden Einstellung gegenüber den gesellschaftlichen Strukturen gelassen, die er da aufdeckte. Er war es jetzt, der mich von einer unerwarteten Seite her kritisierte: Er wolle nicht so tun, als wisse er nicht, worum es gehe. Schließlich lese auch er Zeitungen und schnappe im CENTER Gespräche und Gerüchte auf, die um mich einen Bogen machten. Das müsse aufhören, finde er. Vor allem müsse mein Herumschleichen aufhören.
Der Widerspruch war allgemein, aber nicht überzeugend. Herumschleichen?
Ja. Als hätte ich Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Das mache ihn wütend.
Schlechtes Gewissen? Das traf es nicht. – Was denn sonst. – Nun. Ich fand, ich hätte Grund nachzudenken. – Nichts gegen Nachdenken. Aber worüber. – Ich will herausfinden, wie ich damals war. Warum ich mit denen überhaupt geredet habe. Warum ich sie nicht sofort weggeschickt habe. Was ich wenig später getan hätte.
Also gut. Warum denn also.
Weil ich sie noch nicht als »die« gesehen habe, glaube ich. Das sagte ich wohl zuerst. Natürlich weiß ich nicht mehr, was alles in jener Nacht zur Sprache kam, aber ich weiß noch, das Meer, der Pazifische Ozean da draußen und der Mond da oben waren die ganze Zeit dabei. Ich merkte, wie schwierig es war, normale Alltagswörter mit dem Land in Verbindung zu bringen, aus dem ich nun mal herkam und das in den Zeitungen, die meine Freunde lasen, umstandslos dem Reich des Bösen zugeordnet wurde. Ich bestritt ja vieles nicht, was da zu lesen war, nur hatte ich doch in einem anderen Land gelebt. Wie sollte man das beschreiben.
Tatsachen, aneinandergereiht, ergeben noch nicht die Wirklichkeit, versteht ihr. Die Wirklichkeit hat viele Schichten und viele Facetten, und die nackten Tatsachen sind nur ihreOberfläche. Revolutionäre Maßnahmen können für die von ihnen Betroffenen hart sein, die Jakobiner waren nicht zimperlich, die Bolschewiki auch nicht. Wir hätten ja gar nicht bestritten, daß wir in einer Diktatur lebten, der Diktatur des Proletariats. Eine Übergangszeit, eine Inkubationszeit für den neuen Menschen, versteht ihr? Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein , daran habe ich mich festgehalten. Wir platzten vor Utopie, da dieses Wort nun mal gefallen ist. Wir mochten unser Land nicht, wie es war, sondern wie es sein würde. WIE ES IST, BLEIBT ES NICHT, das war uns gewiß.
Damals also, sagte ich, als diese jungen Herren mich ansprachen und ich sie nicht sofort wegschickte, habe ich wohl noch geglaubt: Vielleicht sind die notwendig. Vielleicht brauchen wir die. Nur zwei, drei Jahre später hätte ich »die« nicht mehr zur Tür
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