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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Russen kamen, aber es waren ja nicht nur Russen, es waren doch darunter Mongolen, Kalmücken, sagten die Leute in dem mecklenburgischen Dorf schaudernd, du hast die versprengten Truppsmarodierender und vergewaltigender sowjetischer Soldaten erlebt, die durch das Land zogen, die abgerissenen Uniformen, die zum Erbarmen schlechte technische Ausrüstung, die Panjewagen, auf denen sie bis in die Mitte Europas gelangt waren, während ihr im Frühjahr dieses Jahres 1945 tagelang mit eurem Flüchtlingstreck an hochwertigem deutschen Kriegsgerät vorbeigezogen wart, das, weggeworfen, stehengelassen, unbrauchbar gemacht, umgekippt in den Straßengräben lag, und die Demütigung saß tief, die in dem Sieg dieser schlecht ausgerüsteten, unzureichend gekleideten und ernährten, meist dunkelhäutigen, zum Teil schlitzäugigen Soldaten über unsere gut bewaffnete, mit allem versehene Truppe lag, doch im Laufe weniger Jahre drehte sich, unmerklich zuerst, dein Gefühl, bis zu dem Punkt, an dem dir der Sieg dieser sowjetischen Truppe nicht nur als erwünscht, auch für dich als rettend erschien und die Vorstellung, nicht sie, sondern ihr, die Deutschen, also die Nationalsozialisten, hätten gesiegt, zur Schreckensvision wurde.
    Eine Reihe von Gesichtern taucht vor mir auf, Moskauer, Leningrader, Menschen, mit denen du offen und rückhaltlos reden konntest. Einige von ihnen, ehemalige Offiziere der Roten Armee, waren mit ihrer Truppe als Sieger in das damalige Deutsche Reich eingerückt. Einer davon in deine Heimatstadt, aus der du kurz zuvor geflüchtet warst. Er war Schriftsteller geworden, mit einer Delegation in Berlin, saß neben dir bei einem Abendessen. Plötzlich sagte er, wie es ihn bedrücke, daß sie damals ohne Not die Innenstadt deines Heimatortes zerstört hätten. Dieser Stadtteil ist inzwischen mit häßlichen neuen Häusern zugebaut, ich habe es gesehen. – Später bat ein anderer dich, in einem mecklenburgischen Dorf nach einer Frau zu suchen und, falls sie da noch lebte, herauszufinden, ob sie ein Kind habe, das 1946 geboren sei. Sie war leider nicht aufzuspüren.
    Professor Jerussalimski, Historiker, der dir ausgerechnet im Park des Schlosses Cecilienhof begegnete, wo die historische Potsdamer Konferenz stattgefunden hatte und wohin erzu einer Tagung gekommen war. Der dir die geschichtlichen Wurzeln des Stalinismus erläuterte und dich inständig bat, niemals deine kritische Haltung gegenüber den offiziellen Verlautbarungen der sowjetischen Seite aufzugeben. Er war schwer krank, er atmete mühsam. Einmal noch konntest du ihn in einem Moskauer Krankenhaus besuchen, er wollte mit dir unbedingt in den Garten, um zu reden. Er starb kurz darauf. Oder die Kollegen, die auch verdächtig oft mit dir auf die Straße oder in Parks gingen und die dir dort die realen Geschichten ihres Landes und ihre eigenen Geschichten erzählten. So daß du eine Zeitlang dachtest, da seien doch so viele kluge kritische Menschen, dieses Riesenreich von innen her zu reformieren, und sie hofften es wohl selbst, als ihnen mit »Glasnost« eine Arbeit aufgeladen und möglich gemacht wurde, nach der sie doch so lange schon verlangt hatten: Das wahre Gesicht ihres Landes ihren Mitbürgern vor Augen zu halten. Eine Herkulesarbeit. »Utopie«, sagt man heute mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln. Du sahst ihre müden, entschlossenen Gesichter in den Redaktionen, in denen auf einmal ein anderer Geist wehte.
    Kaum einer von denen ist noch da, in meinem Moskauer Adreßbuch ist ein Name nach dem anderen ausgefallen. Ich scheue mich, sie zu streichen.

DAS ALTER IST DIE ZEIT DER VERLUSTE
    DAS ALTER IST DIE ZEIT DER VERLUSTE Auch der Hellsichtigkeit?
    Als Ruth zu mir kam, sah ich es ihr an: Ihre Mutter war gestorben. Ruth brachte mir einen Band mit Gedichten von Nelly Sachs, der ihrer Mutter gehört hatte. Ich wehrte mich mit aller Kraft gegen dieses Geschenk, nichts könne unverdienter sein, sagte ich zu Ruth, gerade jetzt. Es würde mich erdrücken. Ruth ließ nicht nach. Eben weil ich es so vehement ablehnte, sagtesie, sehe sie, daß ich es brauchte. Das würde ich vielleicht erst viel später einsehen. Ich sollte es ruhig in eine Ecke legen und andere Bücher darüber türmen. Es würde mich weiter brennen, und das sei gut so. Ich schlug das Buch auf:

    Welt, man hat die kleinen Kinder wie Schmetterlinge,
    flügelschlagend in die Flamme geworfen –

    Ich würde es annehmen müssen, würde diese Zeilen wieder und wieder lesen

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