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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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geregelt. Aber wie sind wir auf diese alten Geschichten gekommen.
    Auf dem Weg über die deutsch-jüdische Frage.
    Ja. Übrigens: Mir macht es genauso Schwierigkeiten, mit gewissen Deutschen zu reden, wie mit gewissen Juden zu reden. Wie ich auch früher nie eine jüdische Frau hatte, jetzt zum ersten Mal, und das ist das Unglück.
    Worin da das Unglück liege, wollte ich wissen.
    Er könne es mir nicht ersparen, noch eine weitere jüdische Geschichte anzuhören, die Geschichte von Lilian, die aus einer streng orthodoxen Wiener Familie komme, deren Vater sich durch einen Sprung aus dem Zug vor der Deportation gerettet habe, in Polen bei den Partisanen gewesen sei, später einen Pelzhandel aufgemacht habe und unsagbar reich geworden sei. Seine einzige Tochter, die er anbetete, mußte auf gleicher Ebene heiraten, den Sohn sehr reicher jüdisch-holländischer Goldschmiede, sie habe zwei Kinder, für orthodoxe Juden wäre es eine untilgbare Schande, wenn die Frau die Familie verließe. Nie würde sie das tun. Es sei alles ganz aussichtslos. Er wisse manchmal wirklich nicht, wozu sie diese Quälerei brauchten.
    Vielleicht hätte es Sinn, sich das einmal ernsthaft zu fragen, sagte ich vorsichtig. Ob er jetzt verstehe, warum ich ihn dazu bringen wollte, mir von seiner Familie zu erzählen.
    Du meinst: Bis ins dritte und vierte Glied.
    Ja. Und verstehst du jetzt auch, warum es mir oft obszön vorkommt, für gewisse Inhalte nach einer Kunstform zu suchen. Übrigens: Wie lange hast du schon diese Depression.
    Seit einem Jahr.
    Das ist zu lange.
    Es ist die Hölle, würde ich sagen, wenn ich an Himmel und Hölle glauben würde.
    Hast du schon mal daran gedacht, dich umzubringen.
    Mit diesem Gedanken lebe ich. Kennst du das nicht, wie es dich tröstet, zu wissen, daß man nicht leben muß.
    Doch. Das kenne ich.
    Und? Das Tonband in deinem Kopf, läuft es noch?
    Es läuft. Aber wir wollten von dir sprechen. Gibt es etwas, was dir hilft.
    Es geht mir besser, wenn ich darüber reden kann.
    Ich wünsche dir, daß du morgen nicht mit diesem Schrecken aufwachst.
    Ich werde Ihnen Bericht erstatten, Madame.

    Band läuft. wie soll ich ihnen erklären, dass mich kein anderes fleckchen erde auf dieser welt so interessierte wie dieses ländchen, dem ich ein experiment zutraute. das war mit notwendigkeit gescheitert, mit der einsicht kam der schmerz. wie soll ich ihnen erklären, dass der schmerz ein mass für die hoffnung war, die ich immer noch in einem vor mir selbst verborgenen versteck gehegt hatte.

    Shenja rief aus Moskau an, mitten in der Nacht, sie hatte sich bei der Umrechnung der Moskauer Zeit in die von Los Angeles vertan. Nun gut, das war nicht mehr zu ändern. Ob ich geschlafen hätte. Nein? Das mißbilligte sie. Sie las deutsche Zeitungen, sie wollte sich nur mal melden. Ach, Shenja! – Nu was? – Verstell dich nicht. Du willst mir auf den Zahn fühlen. Sie fand die deutschen Redewendungen manchmal komisch. Aber wenn es denn der Zahn sein mußte – bitte sehr. Also was ist? Das sei nicht in einem Satz zu sagen. Ich könne auch zwei Sätze nehmen. Sie habe Zeit.
    Shenja, die älter als ich war, bezeichnete sich gerne als »Roter Matrose«. Sie war 1945 mit der Roten Armee nachDeutschland gekommen und in den ersten Jahren danach Kulturoffizierin in Berlin gewesen. Seitdem pflegte sie beständige Freundschaften mit Schriftstellern und Theaterleuten, denen sie damals geholfen hatte. Sie widmete ihr Leben dann der Aufgabe, in den sowjetischen Redaktionen und Verlagen, in denen sie arbeitete, deutsche Literatur durchzusetzen. Wir seien uns doch einig gewesen, sagte sie nachts am Telefon, daß wir uns nicht unterkriegen lassen würden. Ich wußte, wie oft man versucht hatte, sie unterzukriegen. Sie war Jüdin, das kam erschwerend hinzu. Ich sagte, das sei aber in einer anderen Zeit gewesen. Ach, sagte sie, das denke man nur. Die einen unterkriegen wollten, seien immer die gleichen Leute, nur anders angestrichen. Was die zu sagen hätten, höre man sich an, und dann denke man: Geschenkt. Oder ob ich vergessen hätte, was ich ihr mal gesagt hätte: daß es mein Ur-Wunsch sei, kenntlich zu sein. Mich kenntlich zu machen durch Schreiben. Also. Wer hindere mich daran?
    Du hast ein zu gutes Gedächtnis, Shenja.
    Gott sei Dank, sagte sie. Ich seh uns noch in dem Hotelzimmer sitzen, mit dem Chef vom Verlag, weißt du noch?
    Und ob ich das wußte. Es ging um ein Buch von dir, das Shenja unbedingt veröffentlichen wollte und das der

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