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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Verlagschef nur herausbringen konnte, wenn du bestimmte Szenen, in denen die Rote Armee vorkam, herausnähmest. Sie seien zu kritisch, und die Rote Armee sei das einzige, was ihr Riesenreich noch zusammenhalte.
    Du wolltest nicht schuld sein am Zusammenbruch ihres Riesenreiches, aber die Szenen konntest du nicht herausnehmen, so wie du die Szenen über den Vietnamkrieg der Amerikaner nicht hattest herausnehmen können, die der amerikanische Verlag streichen wollte. Dann würde nur eine Fischgräte von deinem Text übrigbleiben, sagtest du.
    Ja, das tat ihm aufrichtig leid, dir auch, Shenja auch. Plötzlich mußten wir beide am Telefon unbändig lachen, und als wir damit fertig waren, sagte Shenja, sie rufe eigentlich an, um mirzu sagen: Jetzt würden sie das Buch drucken, um das es damals ging, und nicht ein einziger Satz würde gestrichen werden. Die Amerikaner nämlich hatten, gegen meinen Willen und ohne mein Wissen, die ihnen unerwünschten Stellen einfach weggelassen, das wußte sie.
    Tja, sagte ich, nun ist euer Riesenreich auch ohne mich zusammengebrochen.
    Sei da mal nicht so sicher, sagte sie. Der Geist unterhöhlt die härtesten Gebilde.
    Du, Shenja, sagte ich nach einer Pause, kannst du dir vorstellen, daß ich das vergessen konnte?
    Sie verstand die Frage sofort. Nichts leichter als das, sagte sie. Wenn ich nicht das meiste in meinem Leben vergessen hätte, würde ich nicht mehr leben.
    Aber daß all die Jahre über nicht der Anflug eines Verdachts mich berührt hat! Wer soll mir das glauben.
    Wenn dir das nicht egal ist, bist du noch nicht durch, meine Liebe. Wenn du die Vergangenheit Macht über die Gegenwart gewinnen läßt, dann haben die doch noch gewonnen.
    Ist unser Leben umsonst gewesen?
    Jetzt gehst du unter dein Niveau. Lies mal ein bißchen in deinen Büchern.
    Hab ich gerade gemacht. In dem ersten, das ihr gar nicht übersetzt habt, weil angeblich der sowjetische Offizier zu schwach wegkäme gegen die deutsche Ärztin. Die fragt den Russen, den sie einst liebte, nach den wichtigsten Eigenschaften des Zukunftsmenschen. Und weißt du, was der sagt: Brüderlichkeit. Mit offenem Visier leben können. Dem anderen nicht mißtrauen. Die Wahrheit sagen können. Arglosigkeit, Weichheit, Naivität nicht als Schwäche sehen. Lebenstüchtig sein heißt nicht mehr rücksichtslos über Leichen gehen.
    Na und? sagte Shenja. Wär doch ganz schön.
    Shenja! So etwas würde heute nicht mal mehr der dümmste, jüngste Autor schreiben! Ich schrieb das fünf, sechs Jahre nach Stalins Tod. Ich war dreißig. Das waren die Jahre, in denen siediese Akte über mich führten. Shenja, wie oft im Leben wird man ein anderer?
    Darüber müsse sie nachdenken, sagte Shenja. Ob mir nicht klar sei, daß wir im teuflischsten Jahrhundert der Geschichte lebten. Daß übermächtige Kräfte nach verschiedenen Richtungen an jedem von uns zerrten. Man müsse versuchen, auf sich zu bestehen, mehr könne man nicht tun. Und damit doswidanja.
    Shenja ist inzwischen gestorben. Damals, das weiß ich noch, ging ich wieder ins Bett, an Schlaf war nun nicht zu denken. Ich dachte an jenen Moskauer Aufenthalt. Stalins überlebensgroßes Bild hing über dem Hoteleingang, fast nie geriet es euch außer Sichtweite, wenn ihr im Bus oder im Taxi durch die Stadt fuhrt, es hing in jedem Büro über den Schreibtischen. Nicht daß dir das gefallen hätte, aber das Wort Personenkult war noch nicht erfunden, russische Freunde meinten, zur Zeit der Revolution hätten die Bilder und Spruchbänder denen, die kaum lesen konnten, die Zeitungen und Broschüren ersetzt, nun allerdings könnte man sie eigentlich entbehren. Im übrigen aber seien das Randerscheinungen, die ihr gemeinsam überwinden würdet.
    Der Freund aber, der dich die ganze Zeit über als Dolmetscher – und wohl nicht nur als Dolmetscher – begleitet hatte, schüttete, als ihr in deinem Hotelzimmer voneinander Abschied nahmt, ein Glas mit Wodka gegen die Deckenlampe, und er stieß dazu einen Fluch aus. Er dachte offenbar, ihr würdet abgehört, du lachtest, aber du nahmst seinen Verdacht ernst. Er war der erste, der dir ohne Worte vermittelte, daß er an nichts mehr glaubte. Woher kam deine Beklommenheit, als er gegangen war? Was ging es dich an, woran dieser Russe glaubte?
    Vor meinem inneren Auge lief ein Film ab, ich hatte nichts vergessen. Nicht, wie ihr den Einmarsch der Roten Armee in Mecklenburg erlebtet, nicht eure Angst, als die Besatzungstruppen wechselten, die Amerikaner gingen, die

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