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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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waren. Wir brachen sie auf, ich las: You are open and honest in your philosophy of love.
    Und am nächsten Tag, oder an einem der nächsten Tage, saß ich mit Bob Rice bei GLADSTONE’S, er hatte mich zum Dinner eingeladen, how are you, hatte er mich zur Begrüßung gefragt, und ich sagte: It is very hard, und er antwortete: I know, und sagte dann, was mich zum Lachen brachte: I am proud of you. GLADSTONE’S ist ein riesiges Lokal auf den Klippen, wo sie fast senkrecht ins Meer abstürzen, hier konnten hunderte von Amerikanern mit ihren Familien auf einmal essen, an großen Holztischen, riesige Portionen, die meisten Esser dick, auch schon die Kinder, wir bestellten meine obligatorische Margarita, die anderswo besser war, dazu Shrimps auf Kokosnuß. Die Hamburger sind gut hier, sagte Bob.
    Daß es so laut sein würde, weil alle schrien, und daß wir auch würden schreien müssen, hatte Bob nicht vorausgesehen. Er war mit mir hierhergegangen, um mir zu erzählen, wie ausgerechnet eines meiner Bücher ihm geholfen habe, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen, er mußte die Hand wie einen Schalltrichter vor den Mund halten, um mir das Zitat aus meinem Buch zuzurufen und um mir zu schildern, wie schrecklich es ist, wenn man einen wichtigen Teil seiner Person immer verborgen halten muß, wenn man sich immer verstecken muß, und wie erleichternd, wenn man es endlich nicht mehr tut, du denkst, schrie er, nun schon die Speisekarte als Sprachrohr zusammengerollt vor dem Mund, du denkst, wenn du das gesagt hast, kannst du alles sagen, und du bist frei.
    Die dicken Väter und Mütter der Familien um uns herum fanden nichts dabei, dem allgemeinen Lärm ihren eigenen Lärm hinzuzufügen, es waren unglaubliche Portionen, die sie vertilgten, riesige Steaks, Berge von Würsten, mehr als handtellergroße Hamburger, und alles, was die Kinder verlangten, wurde ihnen vorgesetzt. Bob aber schien es kaum zu bemerken, er erzählte mir von seinem Freund, von ihrem gemeinsamen Leben, er nannte die Namen großer Männer, die homosexuell waren, und er rief mir zu, wovon ich nicht jedes Wort verstand, wie glücklich er sei, daß er bei seiner Frau nach einer langenschwierigen Zeit ein menschliches Verständnis gefunden habe und daß seine Kinder ihn liebten und zu ihm kamen.
    Wir saßen sehr nahe über dem Meer, die Sonne war eben in einem Dunstfeld untergegangen, siehst du den hellen Streifen am Horizont, sagte Bob, das ist, was ich am meisten liebe. Ein graues Licht breitete sich aus, das hier selten war. Es wurde immer lauter um uns herum.
    Bob, der mich meinen Text »Nagelprobe« hatte lesen hören, hatte mir ein Gedicht mitgebracht, das er mir vorlesen wollte, das war aber unmöglich in dieser Lärmkapsel, wir gingen hinaus auf die Holzterrasse, wo es feucht, kalt und dunkel war und wo wir beide allein waren. Wir saßen dicht am Geländer, das uns vom Meer unter uns trennte, nichts war zu hören als das Brüllen der Brandung, die uns besprühte, der Wind war sehr stark geworden, Bob las, wiederum schreiend, das Gedicht über die Kreuzesnägel, das die englische Dichterin Edith Sitwell 1940 geschrieben hatte:

    Still falls the rain –
    Dark as the world of man, black as our loss –
    Blind as the nineteen hundred and forty nails
    Upon the cross.

    Ja, sagte ich, die Kreuzesnägel kommen in meinem Text vor.
    Der Abend hat sich mir eingeprägt. Was aber wird mir bleiben vom heutigen Tag? Daß es wieder einmal Frühling geworden ist, in all seiner Pracht? Daß die Frage, ob es mein letzter, einer meiner letzten Frühlinge ist, jeden Blick grundiert? Daß die Meldung, in den vergangenen vier Jahren seien im Irak zehntausende Iraker und dreitausend US-Soldaten getötet worden, anscheinend niemanden erschreckt?
    Es ist eine Horrorvorstellung, die Gabe zu besitzen, in die Zukunft zu blicken.
    Damals aber war diese Gabe gefragt. Ich war unvorsichtig genug gewesen, meinen neuen Freunden, der »Gang«, wie wiruns inzwischen selber nannten, Therese, Jane, Margery, auch Toby, meine Tarotkarten zu zeigen. Wir trafen uns draußen beim Privatflughafen, wo Manfred, Janes Freund, ein deutscher Maler, in einem der nicht mehr benötigten Hangars sein Atelier eingerichtet hatte. Es war einer jener Nachmittage, die in einen Abend mit einem überirdischen Himmel übergingen. Aus Manfreds Musikanlage kamen Country-Songs, draußen war ein Grill angeworfen, es roch nach Bratwürsten. Wein und Bier waren in Kühltaschen mitgebracht worden, vom nahen Flugplatz

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