Stadt der Engel
Groll gegen ihre Mutter mehr in ihr.
Du weinst? fragte Peter Gutman, als er hereinkam. Aus Freude, sagte ich. Du kommst gerade recht.
Gut zu hören, sagte er. Und selten.
Selbstmitleid? Ich wollte ihn provozieren.
Sarkasmus, sagte er. Besser als Selbstmitleid.
Lebt deine Mutter noch?
Nein. Der Tod meines älteren Bruders, der vor ein paar Jahren schnell an Krebs starb, hat ihre Lebenskraft gebrochen. Wir hatten meiner Mutter die Krankheit verheimlicht. Mein zweiter Bruder, der jetzt selber Krebs hat und es nicht wahrhaben will, wirft uns das nun vor. Ich bin mir bis heute nicht sicher,was richtig gewesen wäre. Sie starb, man muß wohl sagen, vor Kummer.
Ich schwieg.
Habe ich es geschafft, dich mundtot zu machen. Ich mißbrauche dich, wie du merkst, als Rettungsring.
Der Blinde führt den Lahmen, sagte ich.
Manchmal habe ich mich schon gefragt, was bei dir dieses starke Über-Ich installiert hat.
Sind wir wieder mal bei Freud. Aber da kann ich Auskunft geben, Monsieur: Der preußische Protestantismus. Fleißig, bescheiden, tapfer und immer ehrlich sein. Tugenden, verkündet von der sehr geliebten Mutter.
Und sich selber etwas verzeihen hat zu diesen Tugenden nicht gehört.
Absolutely not, Sir.
Und es ist wohl sehr schwer, das später noch zu lernen.
Yes, Sir.
Aber woher dieses Sündenbewußtsein beim Schreiben.
Du hast es bemerkt. Es ist der kalte Blick. Der kalte Blick des Schreibenden auf seine Objekte. Und daß in dem Augenblick, in dem du soviel Abstand von deinem Schmerz hast, daß du darüber schreiben kannst, dieses Schreiben nicht mehr ganz authentisch ist.
Also wenn du schreiben solltest, kannst du nicht schreiben, und wenn du schreiben kannst, solltest du nicht schreiben.
Correct, Sir.
Na. Da hast du dir ja was Schönes zurechtgelegt. Sind Madame vielleicht eine verkappte Calvinistin?
Reden wir von Ihnen, Monsieur.
Was willst du hören. Daß ich mir meine Neurosen selber anerzogen habe? In der Pubertät fing ich an, wie verrückt in der Schule zu arbeiten, obwohl meine Lehrer mir eher zu Mäßigung rieten. Sogar meine Schrift habe ich verändert, sie wurde auf einmal ganz genau und penibel. Nein, meine Familie hat da keinen Druck ausgeübt. Obwohl es natürlich – aber was heißthier eigentlich »obwohl«! – also: Obwohl es natürlich – und was heißt hier verdammt noch mal »natürlich«! – wie in vielen jüdischen Familien eine »Schuld« gab, über die nie gesprochen wurde. Die Eltern meiner Mutter sind nicht aus Deutschland rausgekommen, sie sind in Theresienstadt gestorben. Eine Tante, die früh nach Amerika ausgewandert war, hat mir einmal umständlich zu erklären versucht, warum sie die Eltern nicht hatten retten können, ich habe das gleich wieder verdrängt. Ich glaube nicht, daß dieses Schuldgefühl in der Familie eine Rolle gespielt hat. Obwohl, mir fällt ein, daß meine Mutter, als sie starb und schon sehr desorientiert war, plötzlich gefragt hat: Wo sind die Eltern?
Ich schwieg. Peter Gutman fragte, ob er vielleicht lieber gehen solle. Ich sagte: Es ist dir ja klar, daß ich Deutsche bin.
Und jetzt denkst du, ich als Jude müßte Schwierigkeiten haben, mit einer Deutschen über diese Dinge zu sprechen.
Ich frage. Ich bin hier auf Juden getroffen, die nie wieder deutschen Boden betreten wollen. Das versteh ich. Ich glaube, ich würde es an ihrer Stelle genauso machen.
So habe ich auch gedacht, als ich jung war. Dann habe ich in Deutschland studiert, in Frankfurt, dann habe ich mich mit meinen deutschen Altersgenossen für die linken deutschen Denker begeistert, von denen einige auch Juden waren. Nein, es war nicht schwierig. Nur einmal bin ich ausgerastet, als die Meldebehörde partout ein polizeiliches Führungszeugnis von mir haben wollte, was es ja in England gar nicht gibt, und mir androhte, meine Anmeldung nicht anzunehmen, wenn ich es nicht beibrächte. Da habe ich zu meinem eigenen Erstaunen in diesem deutschen Büro angefangen zu brüllen, sie hätten meine Eltern vertrieben und meine Großeltern umgebracht, und ich würde mir von keinem deutschen Beamten mehr drohen lassen. Und dann bin ich rausgerannt und war ziemlich zufrieden mit mir, obwohl ich mich zugleich ein kleines bißchen lächerlich fand.
Siehst du.
Was seh ich denn.
Ein richtiger Deutscher hätte sich kein bißchen lächerlich gefunden, nur verdammt großartig. Wie ist die Sache denn ausgegangen.
Ach, nach einiger Zeit wurde meine Anmeldung ohne polizeiliches Führungszeugnis
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