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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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sagte Peter Gutman leise: Ja. Das ist er.
    Das war der Mann, mit dem er seit Jahren lebte.
    Der habe, sagte Ruth, immer verzweifelter im Menschen eine Fehlkonstruktion gesehen, dazu gemacht, um kurzfristiger Vergnügungen willen seine Existenz aufs Spiel zu setzen. Er habe geargwöhnt, das Bedürfnis zur Selbstzerstörung sei in unseren Genen angelegt.
    Solche Zufälle kann man nur erfinden, dachte ich, aber an jenem Abend war ich von einem Gefühl absoluter Richtigkeit erfüllt wie sehr lange nicht mehr. Alles schien zusammenzupassen und einen Sinn zu haben. Ich glaubte, an Peter Gutman die gleiche Stimmung zu bemerken, er war lebhaft, neugierig.
    Erst ganz am Schluß, es war nach Mitternacht, Ruth war dabei, sich zu verabschieden, fragte Peter Gutman sie leise: Und wie starb er? Ruth sagte: Er hat sich umgebracht. Peter Gutman schien nicht überrascht zu sein.
    Wir gingen schnell auseinander, plötzlich sehr müde. Wir würden Ruth besuchen. Vielleicht würde sie im Nachlaß von Lily, der ihr anvertraut war, Briefe meiner Freundin Emma finden. Der Aufenthalt in dieser Stadt bekam eine neue Dringlichkeit. Ich setzte mich noch für ein paar Minuten an mein Maschinchen und schrieb:

    merkwürdig ist die wirkung des zufalls. fast beschämt es mich, dass er imstande sein soll, eine stimmung derart zu verändern, so dass eine aufhellung möglich scheint. jetzt erst merke ich, dass ich nicht mehr daran geglaubt hatte.

    Ich ging schlafen, das Tonband in meinem Kopf hatte Pause. Ich war zu müde, um noch zu lesen. Ich träumte von einer riesigen dunklen Wasserfläche, die ich zu durchqueren hatte. Ein voller roter Mond schwebte am Himmel. Eine Stimme rief: Hast du noch nicht genug? Nein! antwortete ich. Leuchte, guter alter Mond, leuchte! Ich ging und ging durch das kniehohe Wasser. Das Ufer war nicht zu sehen, es schien unmöglich, es je zu erreichen. Trotzdem war mir nicht angstvoll oder trostlos zumute. Als ich aufwachte, sagte eine mir unbekannte Stimme: STADT DER ENGEL. Ich nahm das als Aufforderung.

    Und da ich zwar viele Stunden, aber doch nicht alle Stunden am Tag schreiben konnte und es nötig war, die verbleibende Zeit auszufüllen, und da ich die Zeit auf keine Weise dazu bringen konnte, einfach zu verschwinden, Zeit ist merkwürdigerweise immer da, unzerstörbar, unbeeinflußbar, da ich also das brauchte, was man Ablenkung nennt und zu Unrecht verachtet, fuhr ich gerne wieder mit zu Mon Kee nach Chinatown, wir saßenzu zehnt in dem einfachen Raum um den großen runden Tisch, der sich alsbald, nachdem wir den ersten Tee getrunken und die Frühlingsrollen gegessen hatten, mit zehn ovalen Platten füllte, Krabben in jeder Form und Ummäntelung, Francesco bestand auf seinem süßsauren Fisch, Pintus war dazu bestimmt worden, Rindfleisch zu bestellen, ich blieb bei der kroß gebratenen Ente, die Reisschüsseln gingen herum, eine Flasche Bier für jeden reichte natürlich nicht, wir drehten die große Platte, die in der Mitte stand, und bedienten uns von allen Gerichten, Ria hatte neue Ohrringe vom Flohmarkt in Pasadena, Ines beschwerte sich über Francescos Unschlüssigkeit, wo er die nächsten Jahre verbringen sollte, in Italien oder vielleicht doch hier, wo der berühmte Frank Gehry lebte und baute, über den er schreiben wollte, Pat hatte sich mit ihrer Wirtin total zerstritten und würde noch einmal umziehn müssen, Hanno wußte immer noch nicht, welche Schwerpunkte er in seiner Arbeit setzen sollte, Pintus hatte endlich die Korrekturen von seinem Buch über den Geist des frühen Mittelalters fertig gelesen, Lutz hatte die Nachricht, daß seine Bewerbung für einen Lehrstuhl in Frankfurt angenommen war, das freute uns, darauf mußten wir mit ihm und Maja anstoßen, und Peter Gutman, der zum ersten Mal mitgekommen war, sprach zum ersten Mal vor uns allen über seinen Philosophen und dessen Schicksal.
    In vier, fünf Monaten würden wir über ganz Europa verstreut sein, uns vielleicht nie wieder sehen, doch die Sympathie, die uns verband, war keine Illusion, ich wußte, daß der Anteil, den wir aneinander nahmen, nicht geheuchelt war, wir genossen es, daß wir nur soviel voneinander wußten, wie wir uns gegenseitig erzählen wollten, wir freuten uns an dem Beziehungsnetz, das entstanden war. Ich merkte, daß es um den Tisch still geworden war und daß ich aussprach, was ich nur hatte denken wollen. Eigentlich sind wir eine ganz gute Truppe. Dann wurden die Küchlein gebracht, in die die Orakelsprüche eingebacken

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