Stadt der Engel
müssen.
Daß Peter Gutman unerwartet an die Tür klopfte, war einer jener Zufälle, über die man nachträglich ins Staunen kommt, wenn ihre Folgen sichtbar geworden sind. Er erfaßte unsere Stimmung und wollte sich gleich zurückziehen, wir hielten ihn fest. Ich machte Ruth und ihn miteinander bekannt und erlebte, daß sie aufeinander zugingen, als seien sie alte Vertraute. Während ich aus der Küche Brot, Käse, Tomaten hereinholte und Rotwein einschenkte, waren sie schon in ein Gespräch vertieft, sie sprachen über ihre Leben. Das war unglaublich, scheu wie sie beide waren.
Sie bemerkten kaum, daß sie zu essen anfingen, und ich verhielt mich still und hörte ihnen zu. Ja, sogar die Geschichte mit ihrer Mutter vertraute Ruth Peter Gutman an, die sie sonst fest in sich verschlossen hielt, und er sprach in Andeutungen über das, was er sein »Lebensproblem« nannte. Und danach war es nicht mehr weit bis zu der Erkenntnis, daß ihre Probleme ihnen von der düsteren Geschichte dieses Jahrhunderts aufgezwungen wurden. Und doch, sagte Peter Gutman, sei es wahrscheinlich, daß das Unheil unserer Zeit noch übertroffen würde von dem Grauen des nächsten Jahrhunderts, an dessen Schwelle wir standen.
Ruth widersprach ihm heftig. Wem solle es nützen, wenn man die Zukunft schwarz in schwarz sehe, sagte sie. Ob er etwa nicht wisse, daß man Unheil herbeidenken und herbeiwünschen könne.
Peter Gutman glaubte eigentlich nicht daran, er sagte es mehr durch seinen Gesichtsausdruck als durch Worte. Aber harte Tatsachen könne man eben leider nicht mit noch soviel seelischer Energie aus der Welt schaffen.
Erst jetzt fiel mir auf, daß wir die ganze Zeit deutsch sprachen, Ruth mit einer leichten rheinländischen Sprachfärbung, die sie nicht verloren hatte, während sie manche Wörter suchen mußte, das rührte mich. Sie geriet in Eifer, sie wollte ihn wirklich überzeugen. Sie wisse nämlich, wohin das führe, rief sie, wenn ein Mann sich im Netz seiner ausweglosen Gedanken verfange und selbst die klügste und ihm liebste Frau ihn nicht daraus befreien könne.
Wie sie es sich denn erkläre, fragte Peter Gutman, daß die tiefsten Denker unserer Zeit die von ihr so geschmähte pessimistische Weltsicht gehabt hatten?
Wer zum Beispiel?
Nun, zum Beispiel Sigmund Freud.
Ja, Freud! Das gab sie zu. Er war ja natürlich einer ihrer geistigen Lehrer und Vorbilder. Aber der habe, so schmerzliche Einsichten sein Leben ihm auch aufgezwungen habe, jedenfalls nicht klein beigegeben, habe weiter gearbeitet, an seinen Heilungsversuchen gestörter Seelen. Also habe er gezeigt, daß er die Hoffnung nicht aufgab. Ein Mann wie dieser habe sein Verzweifeln an der Menschheit durch sein eigenes heroisches Leben aufgehoben. Während andere –
Ruth brach ab, als habe sie zuviel gesagt.
Peter Gutman drängte sie, weiterzusprechen. Später gestand er mir, daß er von diesem Augenblick an in eine unerklärliche Aufregung geriet. Nun ja, sagte Ruth, sie kenne »tiefe Denker«, wie Peter Gutman sie nenne, die sich aus dem Sog des Wortes »Vergeblichkeit« nicht mehr befreien konnten. Nicht einmal durch die innigsten Anstrengungen ihrer Geliebten. Sie wisse das, sagte Ruth, durch ihre Freundin Lily.
Unglaubhaft, dachte ich. Ich weiß noch, ich dachte: unglaubhaft.
Ihre Freundin? Aber von der sei doch noch gar nicht die Rede gewesen, sagte Peter Gutman.
Nein? Das sei ihr Fehler, sagte Ruth. Ihre Freundin Lily, die hätte sie gleich erwähnen müssen. Eine Psychoanalytikerin. Aus Berlin. Wo die lieben Kollegen unter dem Druck der Nazis widerspruchslos zugesehen hätten, wie die jüdischen Psychoanalytiker aus der gemeinsamen Vereinigung vertrieben wurden. Emigrieren mußten und hier in den USA die Psychoanalyse zur Blüte brachten. Ihre Freundin aber, die selbst nicht Jüdin war, habe erkannt, daß im Deutschland der Nazis keine Analyse möglich sein würde. Und sie habe nicht von ihrem Geliebten lassen wollen, der, als Jude, auf ihr Betreiben hin rechtzeitig in die USA emigriert war.
Was jetzt kam, was Ruth von Lily, von ihrem Leben, ihrem Charakter erzählte, glaubte ich alles zu kennen. Aus den Briefen jener L., die in der roten Mappe in meinem Regal lagen.
Und ihr Geliebter, der Philosoph? hörte ich Peter Gutman sagen. Wie hieß er denn.
Da wußte ich es schon, sagte er später zu mir. Es war ja nicht möglich, aber ich wußte es schon.
Ruth nannte den Namen, auf den Peter Gutman gewartet hatte.
Ein paar Sekunden war es still, dann
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