Stadt der Engel
trat zu mir und sagte, sie habe es sich nicht vorstellen können, noch einmal in ihrem Leben einen Menschen zu finden, der ihr so wichtig sein würde wie Manfred. Warum hast du dir das nicht vorstellen können? fragte ich. Das erzähl ich dir später mal, sagte sie.
Sie erzählte es mir noch am gleichen Abend. Als es dunkel wurde, brachen wir auf, wollten uns aber noch nicht trennen, verabredeten uns für den Abend bei Toby in Venice, verteilten uns auf die verschiedenen Autos, ich kam neben Jane in ihrem Auto zu sitzen. Eine Weile fuhren wir schweigend auf dem Freeway, wieder spürte ich, daß dieses Fahren im Dunkeln auf Freeways die Lust erweckte, miteinander zu reden. Jane wollte wissen, ob ich dächte, Manfred passe nicht zu ihr, weil sie beide so verschieden seien. Ich sagte, zuerst hätte ich so etwas gedacht, nachdem ich sie zusammen gesehen hätte, dächte ich das nicht mehr. Sie habe selber nicht gewußt, sagte Jane, daß sie genau das gebraucht habe. Sie habe bis dahin immer nur schwere Beziehungen zwischen Menschen kennengelernt, gerade zwischen Menschen, die einander nahe seien. Ich müsse wissen, ihre beiden Eltern seien deutsche Juden, die verschiedene KZs überlebt hatten und sich nach dem Krieg in einem der Lagerfür displaced persons getroffen hätten. Ihr Vater habe vorher schon Familie, Frau und Tochter, gehabt, die umgebracht worden seien. Ich glaube, sagte Jane, er hat niemals wirklich mich lieben können, er hat immer hinter mir seine tote erste Tochter gesehen. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Kind bedeutet? Die Fotografie habe ihr geholfen, zu sich selbst zu finden, merkwürdigerweise dadurch, daß sie sich mit der Kamera auf andere konzentrieren mußte und von sich selbst ganz und gar absehen konnte.
Ich erinnere mich, wie froh ich war, auf Jane getroffen zu sein.
Tobys Zimmer in seinem kleinen Venice-Haus waren beinahe leer geräumt, ich sah, wie Therese darüber erschrak. Man hatte ihr bis jetzt nicht gesagt, daß Toby wieder einmal die Brücken hinter sich abbrechen und nach Mexiko gehen wollte. In einer Ecke standen die Modelle der Häuser, die er entworfen hatte, feingliedrige, originelle Basteleien aus dünnen Hölzern, die keiner ausführen wollte, wie üblich, sagte Toby mit einer leichten Bitterkeit. Er müsse sich noch einmal ganz woanders ausprobieren. Wir bekamen Wein und Crackers, dann mußte ich die Tarotkarten auspacken. Jeder sollte mir die Frage, die er den Karten stellen wollte, ins Ohr flüstern. Ich ließ mir von allen versichern, daß sie nicht an die Karten glaubten. Daß es ein Spiel war, was wir da trieben. Ich mischte die Karten, und es ging los.
Toby wollte zu meiner Überraschung wissen, ob das Verhältnis zu seinem Vater sich noch einmal bessern würde. Ich legte das vorgegebene Muster aus und fand, daß zwei weit voneinander entfernte männliche Figuren sich auf den Weg zueinander machten. Toby schien glücklich zu sein über das Orakel, er habe nie geglaubt, daß sie beide für immer verfeindet bleiben würden, und ich hatte nicht das Herz, zu wiederholen: Es ist ein Spiel, Toby, es ist ein Spiel!
Therese wollte wissen, auf welchem Kontinent sie ihr Glück finden würde, und die Karten sagten, daß sie unstet bleiben undeben darin ihr Glück sehen sollte. Oder jedenfalls ihre Bestimmung. Therese wurde nachdenklich und lehnte sich an Toby.
Ich wollte Jane abhalten, sich auch dem Spruch der Karten anzuvertrauen, du bist doch nicht abergläubisch, wollte ich ihr sagen, ich wußte das Wort nicht, superstitious, ich sagte: Don’t believe in the cards, please, Jane! Sie sagte: Certainly not, don’t worry! Aber sie bestand darauf, daß ich auch für sie die Karten befragen müsse. Sie wollte wissen, ob man sie lieben könne, und ich verfluchte meine Leichtfertigkeit und Nachgiebigkeit, mit diesem Spiel begonnen zu haben. Lange mischte ich die Karten für Jane, wild entschlossen, die richtige Antwort herauszulocken, und ich hatte Glück: Als letzte Karte erschien, alle anderen überstrahlend, DIE WELT, die nun allerdings denjenigen oder diejenige, der sie zufiel, über jeden Zweifel mit einer Fülle von Liebe ausstattete, Liebe, die sie verströmte und empfing. Dazu ließ sich, auf Jane bezogen, viel sagen. Zufrieden? fragte ich sie. Thank you, sagte sie, und ich wußte nicht: Hatte sie mich durchschaut? Wollte sie den Karten glauben? Ich begriff, daß ich mit den Karten unvermeidlich Macht über andere bekam, und nahm mir fest vor, für niemanden mehr
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