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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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stiegen Privatmaschinen auf, die Reichen, hörte ich, die von ihren Büros in L. A., wo sie ihr Geld machten, abends nach San Diego oder Malibu in ihre schloßähnlichen Villen flogen.
    Freunde der Freunde kamen und gingen, wurden bewirtet, in die Gespräche hineingezogen, begrüßten mich, ohne lästige Neugier zu zeigen, manche sangen einen der Songs mit, Manfreds Eisenskulpturen wurden begutachtet.
    Siehst du, sagte Manfred, das ist für mich Amerika. Wenn man eine Weile hier gelebt habe, gebe es den gefährlichen Punkt, an dem man den Absprung verpaßt habe und nicht mehr zurückkehren könne nach Europa. Ihm sei das passiert. Er sei im vorigen Jahr probehalber ein paar Wochen in Deutschland gewesen – es sei nicht mehr gegangen, er habe es akzeptieren müssen. Sicher reichten die Beziehungen mit den Freunden hier nicht sehr tief, sicher bewege man sich manchmal ein wenig zu sehr in seichtem Wasser, aber diese Leichtigkeit sei doch oft einfach erholsam, verglichen mit der Sucht der Deutschen, alles zu verkomplizieren.
    Ich fragte mich, wann ich zum ersten Mal und aus erster Hand etwas über Amerika gehört hatte, kennst du Leonhard Frank, fragte ich Manfred. Er kannte ihn nicht.
    Du siehst ihn sitzen, weißhaarig, schmal, korrekt und zugleich leger gekleidet, wegen eines Buches, das in einem ostdeutschen Verlag erschienen war, aus München gekommen, in einer Runde von Kollegen, zumeist Ostdeutschen, die wie er eine kürzere oder längere Zeit in einem Schriftstellerheim an einemmärkischen See verbrachten, es gab die zwei deutschen Staaten schon, aber noch keine Mauer, keine Reisebeschränkung, aber Devisenmangel in der DDR, der Westdeutsche mußte sein Honorar für Bücher, die in der DDR gedruckt worden waren und nicht in Westgeld bezahlt werden konnten, bei einem längeren Aufenthalt hier verbrauchen. Der westdeutsche Staat riß sich nicht gerade um Leonhard Franks Bücher, so wenig wie um die von Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers. Ihr wußtet, daß er als Emigrant in den USA gelebt hatte, und fragtet ihn aus, er erzählte bereitwillig, aber er beschränkte sich auf Anekdoten. Wenn seine Frau Charlotte den Raum betrat, leuchtete sein Gesicht auf, und er ließ den Blick nicht von ihr. Sie war Schauspielerin und habe, erzählte er euch, in einer amerikanischen Fernsehserie mitgewirkt, als beim Publikum sehr beliebte Hauptdarstellerin, die an Tuberkulose erkranken und am Ende sterben mußte. Um die Krankheit glaubwürdig spielen zu können, habe sie sich von einem Arzt vorführen lassen, wie ein Lungenkranker zu husten habe. Nach dem Tod seiner Lieblingsfigur habe das Publikum verlangt, öffentlich von ihr Abschied nehmen zu können. Der Produzent habe darauf bestanden, daß Charlotte sich auf der Bühne eines Theaters als Leiche aufbahren ließ und das Publikum an ihr vorbeidefilieren konnte. Charlotte habe starr und steif dagelegen und die ganze Zeit wie ein Mantra gedacht: Hundert Dollar, hundert Dollar. Leonhard Frank bewunderte sie dafür wie für jeden ihrer Auftritte, für jedes Wort, das sie sagte.
    In seinen ersten Monaten in Los Angeles soll er, wenn er nicht untätig seine Zeit im Filmstudio absaß, von einer Bank im Ocean Park aus unverwandt über den Pazifischen Ozean geblickt haben. Als ein Bekannter ihn fragte, was er denn da sehe, habe er gesagt: Da liegt Europa. O nein, wurde ihm bedeutet. Da liegt nicht Europa, da liegt Japan. Da habe er den Kopf geschüttelt und sei gegangen. Und, sagte ich, daran muß ich oft denken, wenn ich im Ocean Park sitze, vielleicht auf der gleichen Bank, auf der er damals gesessen hat.
    Und soeben, mehr als fünfzehn Jahre danach, finde ich in Leonhard Franks Lebensbericht »Links wo das Herz ist« die Schilderung jenes Zustands, in den das Exil den Emigranten versetzt: Jetzt gab es kein Zurück mehr. Dieses lähmende Bewußtsein begleitete ihn siebzehn lange Jahre Tag für Tag, … daß es kein Zurück mehr gab nach Deutschland, in seine Werkstatt, sein Leben, in seine Landschaft, mit der er sich eins fühlte, als wäre er ein Teil von ihr. … Sein Leben war nicht mehr sein Leben. Es war mitten entzweigebrochen.
    Manfred sagte, ja, er verstehe wohl, daß man Sehnsucht haben könne nach dem alten Kontinent. Aber da sei ja Jane, die könne er doch nicht nach Europa verpflanzen. Ich sah den Blick, den Jane ihm zuwarf, ich sah, daß sie ihm anhing, es überraschte und freute mich. Wir aßen, tranken, bewegten uns zwischen den verschiedenen Gruppen, Jane

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