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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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mein Tarot auszupacken.
    Bis, wenige Tage später, Peter Gutman bei mir anklopfte und ohne Umschweife verlangte, daß ich für ihn mit Hilfe der Karten herausfinden sollte, wie man sich verhalten müsse, wenn man einen Menschen liebe, aber jede Hoffnung, mit ihm je leben zu können, vollkommen illusorisch sei. Ich weiß nicht mehr, welche Kunststücke ich brauchte, um die Karten zu dem Ergebnis zu treiben, das ich von Anfang an angestrebt hatte: Sublimieren, sagte ich. Ihr müßt eure Gefühle sublimieren.
    O yes, madam, sagte er.
    Übrigens hätten sie natürlich längst das Gelübde gebrochen, daß sie nicht mehr miteinander telefonieren wollten. Sie telefonierten exzessiv, aber das mache sie nicht glücklicher. Dazu war nichts zu sagen.
    Er fragte mich nach meinen »Zuständen«. Ob sie vorüberseien. Nicht ganz, sagte ich. Er äußerte seine Mißbilligung. Ob ich mich nicht damit abfinden könne, ein durchschnittlicher Mensch zu sein, mit Fehlern und Fehlhandlungen, wie alle. Herrgott noch mal, hör schon auf! sagte er. Du hast doch niemandem geschadet!
    Doch, sagte ich trotzig. Mir selbst.

    worum geht es eigentlich. es geht darum, mir klarzumachen, dass diese zustände vorübergehen. erfahrungsgemäss, auch wenn ich mir das jetzt noch nicht glauben kann. eine zeit wird kommen, in der es mir schwerfallen wird, mich daran zu erinnern.

    Das Schlafmittel wollte ich eigentlich mal auslassen. Ein Glas warme Milch würde jetzt gut tun. Ich stand auf und machte mir ein Glas warme Milch mit Honig. Es war noch dunkel, aber die Vögel fingen schon an mit ihrem Morgenkonzert. Wer sagte denn oder wo stand geschrieben, daß ich die Gedanken, die durch meinen Kopf liefen, immer mitdenken mußte. Ausgehöhlt, das war das richtige Wort. Ich war ausgehöhlt. Jetzt trink mal in kleinen Schlucken diese Milch, sagte ich zu mir. Jetzt leg dich wieder hin. Jetzt bin ich müde. Jetzt kam der Obdachlose, der jeden Morgen in den Müllcontainern unter meinem Fenster nach Flaschen suchte. Ich hörte noch das Klingeln der Flaschen, und dann nichts mehr.
    How are you today. Ein ganzer Fahrstuhl voller ahnungsloser unschuldiger Leute. O thank you, I am fine. That’s wonderful. Jemand hatte mir erzählt, von den weiblichen Angestellten in diesem Bürohaus werde erwartet, daß sie täglich ihre Garderobe wechselten. Ich merkte, wie ich anfing, mich nach dieser Regel zu richten. Ja war ich denn verrückt. Ich redete im Sekretariat mit Kätchen. Sie sagte, sie sei oft in Versuchung, diese ganzen Faxe, die für mich aus Europa kämen, einfach in den Schredder zu schmeißen. Darüber konnte ich lachen. Ich hatte ihr gesagt, daß sie die Suche nach L. aufgeben sollte, undihr Lilys Geschichte erzählt. Ich steckte das Bündel Papiere, das wieder in meinem Fach lag, in die indische Tasche, ohne es anzusehen.
    Ich ging in die Third Street und aß ein Sandwich. Ich kaufte mir eine von den billigen Seidenblusen. Beim Nachhausekommen hörte ich schon auf der Treppe mein Telefon. Es hörte und hörte nicht auf, dann war es die aufgebrachte Stimme aus Berlin. Wo bist du denn, verdammt noch mal. Ich konnte und konnte dich nicht erreichen. – Aber ich war doch nur zum Lunch. – Ach so. Ich dachte schon, ich hätte dir diesen Artikel nicht faxen sollen. – Welchen Artikel? – Einen ziemlich unangenehmen Artikel von jemandem, von dem du es nicht erwartet hättest. – Er nannte den Namen. – Hab ich noch nicht gelesen. – Dann laß es bleiben, hörst du. Lies ihn nicht. Ich hätte ihn dir nicht faxen sollen. – Ach weißt du: Was zuviel ist, ist zuviel. – Na eben. Aber ich konnte dich nicht erreichen, und da bin ich einfach ins Schwitzen gekommen, weißt du. – Du hör mal, ein für allemal: Mir passiert nichts. Da ist keine Gefahr. – Ist gut. Wär ja auch absurd. Ich dachte nur, wegen dieses verdammten Artikels. – Nein. Gerade wegen dieses verdammten Artikels nicht. Geh schlafen. Ist bei dir nicht Mitternacht. – Ja, allerdings. Bei mir ist Mitternacht. – Bei mir dagegen ist es erst vier Uhr nachmittags. Daran gewöhnt man sich schwer, findest du nicht? – Ja, das find ich auch, daß man sich schwer daran gewöhnt. – Gute Nacht.
    Den Artikel las ich Tage später, in kleinen Schlucken. Es war die Überdosis, und ich wartete auf meine Reaktion, die blieb fast ganz aus. Fing ich etwa an, Abwehrkräfte zu entwickeln?
    Ich weiß, daß es unglaubhaft klingt, aber es gab da rosa Vögel, ein rauchiges Rosa, ein solcher Vogel hatte sich früh

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