Stadt der Engel
exzentrischer Zufälle, die in Gang gesetzt werden mußten, damit einige Rätsel, die jeder von uns mit sich herumtrug, hier ihre Auflösung fanden? Oder hatten wir uns so an den seelischen Ausnahmezustand gewöhnt, in dem wir zweifellos lebten, daß kein noch so unvorstellbares Wunder uns aus der Bahn werfen konnte? War es so? Wenn es nicht so gewesen wäre, müßte ich es erfinden.
Daß Ruth eine Holzkiste mit dem Nachlaß von Lily für uns bereitgestellt hatte. Daß sie uns Tee und Cookies anbot, weil die Gastfreundschaft es so erforderte. Daß wir den Tee tranken, die Cookies aßen, obwohl wir insgeheim nur nach der Holzkiste blickten, die auf einem Nebentischchen stand. Es war eine schlichte, mit einem Riegel verschließbare Kiste, in der Ruth wahrscheinlich irgendwelche Waren aus einem Versandhaus empfangen hatte. Sie enthielt, als sie endlich vor unseren Augen geöffnet wurde, hauptsächlich Papiere.
Lily habe vor ihrem Tod gründlich aufgeräumt. Da sie keine Kinder, keine Angehörigen hatte, müsse sie selbst für ihren Nachlaß sorgen, habe sie zu ihr, Ruth, gesagt. Lily sei eine Frau ohne jedes Selbstmitleid gewesen, von einem manchmal derben Humor – ganz anders als ihr Philosoph, der über vierzig Jahre ihr Geliebter war, sie habe es kürzlich erst ausgerechnet, sagte Ruth. Sie wolle nicht sagen, daß kein anderer Mann je über Lilys Schwelle gekommen sei, sie sei eine gefühlsstarke Frau gewesen, aber oft und oft habe sie zu ihr gesagt, sie habe unter den Milliarden Menschen auf unserem Planeten den einenMann gefunden, der für sie bestimmt gewesen sei. Und sie habe sich nicht genug wundern können über dieses Glück.
Der Philosoph? O der! Nein, der habe außer seiner eigenen Frau, Dora, die ein Ausbund an Tapferkeit sei, und Lily keine andere Frau gehabt, und auch keine andere gebraucht. Und ob wir es nun glaubten oder nicht: Es habe zwischen den beiden Frauen nie einen Anflug von Eifersucht gegeben.
So hat Lily sich ganz der Liebe zu diesem Mann untergeordnet? fragte ich, ungewollt leicht aggressiv. O nein! rief Ruth. Sie könne sich keine Frau vorstellen, die weniger zur Unterordnung geeignet gewesen sei als Lily. Zwischen ihr und dem Philosophen seien manchmal die Funken geflogen. Sie habe sich oft gesagt, für einen Menschen wie Lily müsse das schlimmste am Exil gewesen sein, daß sie sich, um des schieren Überlebens willen, auf eine Art Mimikry einlassen mußte. Oder ob wir noch nicht bemerkt hätten, wie durch und durch konformistisch die amerikanische Gesellschaft sei. Auch darüber habe Lily ihr die Augen geöffnet. Vorher habe sie wirklich an den freien kritischen Geist geglaubt, den die Zeitungen für Amerika reklamierten. Lily benutzte es als Test, sagte Ruth, wie ein Gesprächspartner reagierte, wenn sie, scheinbar beiläufig, das Wort »Kommunist« hinwarf.
Du bist die erste Amerikanerin, sagte ich, die dieses Wort ausspricht, als sei es ein gebräuchliches Alltagswort. – Nun blieben wir beim »Du«.
Das haben die beiden mir beigebracht, Lily und ihr Philosoph, sagte Ruth. Sie haben mir bewiesen, mit welcher Feigheit alle – fast alle – Amerikaner sich um dieses Wort herumdrücken; und daß sie, daß wir, uns selber abtrennen von einem riesigen, folgenreichen Gebiet des europäischen Denkens und Handelns und uns ein verhängnisvolles Tabu verordnen, indem wir alle Kommunisten zu Verbrechern erklären. Seitdem frage ich nach bestimmten Schriften, nach bestimmten Autoren, nach bestimmten Namen. Das hilft mir übrigens sogar, was ich nicht vermutet hätte, bei meinen Therapien mit Patienten.
Inwiefern? wollte Peter Gutman wissen. Sie werde ihren Patienten doch keine kommunistischen Ideen einflößen wollen?
Lieber Himmel, nein, sagte Ruth. Dann würde sie wohl bald keine Patienten mehr haben. Aber es sei doch merkwürdig, wie hellsichtig man werde gegenüber den Denk- und Gefühlshemmungen eines anderen, wenn man sie bei sich selber einmal durchschaut habe. Nun ja: Bis zu einem gewissen Grade durchschaut.
Ich war die einzige von uns dreien, überlegte ich, die leibhaftige Kommunisten gekannt hatte. Zuerst konnte ich sie noch einzeln an den Fingern abzählen. Die ersten waren Schemen, Gerüchte, erinnerte ich mich. Du sahst das Gesicht eures Mädchens Anneliese vor dir, die dir, dem Kind, erzählte, wie ihre Familie geweint habe, als die Kommunisten in eurer Heimatstadt nach dem Sieg der Nazis ihre Fahnen öffentlich auf dem Moltke-Platz verbrennen mußten. Ja, wart ihr denn
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