Stadt der Engel
morgens auf dem Dachrand vor meinem Fenster eingestellt.
Für Tage tanzte diese ganze taumelnde Erdscheibe auf einer Nadelspitze.
Das ms. victoria hatte ein unterirdisches Leben. Wenn ich mit dem Fahrstuhl in den Keller fuhr, um mich derWaschmaschinen zu bedienen, traf ich manchmal auf unsere Reinemachtruppe, fast alle Latinos, bis auf Angelina, die aus Uganda kam. Hier unten waren sie bei sich und frei, sie packten ihre Sandwiches aus und tranken Kaffee aus Pappbechern, sie machten sich übereinander und vielleicht auch über uns lustig, sie lachten laut, sogar kreischend, sie nahmen mich kaum zur Kenntnis. Jetzt waren sie noch beieinander und zeigten Fotos von ihren Kindern herum und schlugen sich auf die Schenkel und hatten Freuden und Gefühle, die ich niemals teilen würde, und waren, solange sie diesen elenden Job hatten, so frei, wie ich niemals sein würde, dachte ich, sie kümmerten sich nicht darum, was sonst in dieser Stadt passierte, sie waren erst drei, vier Jahre hier, vielleicht nicht alle legal, Englisch sprachen sie nur das Nötigste und kaum verständlich, sie gingen zu keiner Wahl, sollte doch regieren, wer wollte, ihr Leben war so hart, wie ich es mir nicht einmal vorstellen konnte, aber jetzt, diese Viertelstunde inmitten ihres Arbeitstags, saßen sie hier und waren beieinander und heiter und kümmerten sich nicht um den schmutzigen stickigen Kellergang und um die weiße Frau, die ihren Wäschebeutel vorbeitrug und der sie zwei Stunden später, wenn sie in ihr Apartment kamen, um die Becken zu scheuern und Staub zu saugen, das Gefühl vermitteln würden, daß ihr Wohlergehen ihnen am Herzen lag.
Ich spüre einen Sog vom Ende her, ich muß mich dagegen stemmen und noch bisher Verschwiegenes oder jedenfalls nicht Erwähntes in mir aufsteigen lassen und zu Papier bringen. »Sog vom Ende her«, jetzt erst bemerke ich den Doppelsinn dieser Metapher, lasse sie aber stehen, obwohl – oder weil – sie auch in ihrem zweiten Sinn, dem Sog auf das Lebensende, nicht nur auf das Ende dieses Textes hin, zutrifft.
Immer dieselbe Litanei, auf allen Kanälen, sagte ich zu Peter Gutman, mit dem ich wieder mal im Auto durch Los Angeles fuhr und Radio hörte. Auch ich konnte meine Litanei noch nicht unterbrechen.
Dir ist ja wohl klar, daß du dich sofort aus der Schußlinienehmen würdest mit einer wohlformulierten Reueerklärung, sagte er. Halt dich an deine Freunde. Und wenn dir kein Freund was nützt, warum hältst du dich nicht an deine Feinde? Warum hältst du dich nicht an deine Verachtung für die Journalisten, die dir ins Gesicht hinein sagten, daß sie ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen konnten, als sie erfuhren, daß die Konkurrenz die Story bringen würde? Daß sie da sofort zuschlagen mußten? Auch Haß kann einen stark machen, glaub’s nur.
Sie sprechen von Haß, Monsieur?
Darauf ging Peter Gutman nicht ein. Er wollte wissen, warum ich nicht endlich wütend würde, Herrgott noch mal.
Ist mir noch nicht eingefallen, sagte ich. Ich frage mich, ob alles umsonst war.
Da zweifelst du? Alles war umsonst, und alles war unvermeidlich.
Du kannst einen trösten, sagte ich, und er: Ja, das könne er, wenn ich schon auf diesem Wort bestehen wolle. Oder sei es etwa kein Trost, zu wissen: Wir sind die ersten nicht? Und auch nicht die letzten?
WIR SIND KOMISCH KONSTRUIERTE WESEN, NICHT?
WIR SIND KOMISCH KONSTRUIERTE WESEN, NICHT? Right, Madam.
Und dann forderte ich ihn auf, sich umzudrehen und sich die Sonne anzusehen, wie sie am äußersten Ende des Wilshire Boulevard im Meer unterging, die letzte Handbreit über dem Horizont machte sie wie immer unglaublich schnell, als nehme sie sich für dieses Stück extra einen Endspurt vor. Das wäre es wieder mal gewesen, und nun würde es schnell dunkel werden, und ich dachte, daß ich auf Dauer nicht in einem Land leben wollte, in dem es keine Dämmerung gab. Ich hänge an der nördlichen Dämmerung, sagte ich zu Peter Gutman, unddann schwiegen wir den Rest des Weges und waren auch bald bei Ruth angekommen, die uns eingeladen hatte.
Sie wollte über Lily mit uns reden, und sie wollte uns einiges zeigen.
Jetzt, so viele Jahre danach, ist meine Verwunderung noch gewachsen: Taten wir drei wirklich so, als sei unser Zusammentreffen an diesem Ort, aus diesem Anlaß, die selbstverständlichste Sache von der Welt? Kaum will ich das glauben. Haben wir je, Peter Gutman und ich, unser aufgeregtes Erstaunen ausgedrückt über die unglaubhafte Fülle höchst
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