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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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lächelte wissend und sagte: Yes. That’s true.
    Ich dachte, warum muß ich diese Wahrheit in einer fremden Sprache erfahren. Vielleicht hätte ich sie in meinem heimatlichen Deutsch nicht ausgehalten. Wie lebten alle die Menschen mit diesem Wissen. Ich war untröstlich. Angelina brachte mir Tee. Das Fieber stieg, Ria kam, nach mir sehen, Therese, Peter Gutman steckte seinen langen Schädel herein und gebrauchte das Wort »Krise«. Es dauerte zwei, drei Tage. Dann war es vorbei, ich stand auf, ein wenig wacklig noch, ich erholte mich schnell, ging zu den anderen, nahm teil an ihrem Leben, an ihren Gesprächen.
    Was vorher wichtig gewesen war, hatte an Bedeutung verloren. Ich wußte nun, daß ich sterben mußte. Ich wußte, wie gebrechlich wir sind. Das Alter begann. The overcoat of Dr. Freudhatte Risse bekommen, ich wollte herausfinden, wie das Innenfutter des Mantels beschaffen war. Das konnte ich überall tun, an jedem Ort der Erde, warum nicht hier?
    Peter Gutman gefiel die Stimmung nicht, in der ich mich befand. Wir saßen in meinem kleinen GEO und fuhren zu Karl, dem deutschen Fotografen, zu seinem Haus in den Hügeln direkt unter den Buchstaben HOLLYWOOD. Die Straßen waren wider Erwarten ruhig. Am Morgen war das Urteil der Geschworenen im Rodney-King-Prozeß bekannt geworden, dem zweiten Prozeß gegen die vier weißen Polizisten, die einen Schwarzen, der vor ihnen geflohen war, beinahe zu Tode geprügelt hatten. Wären die »nicht schuldig« gesprochen worden, hätten viele einen Ausbruch von Gewalt in der Stadt erwartet, ausgehend von den Vierteln der Schwarzen. Die Jury hatte ein salomonisches Urteil gefällt: Zwei der Angeklagten »guilty«, zwei »not guilty«. Die Weißen hätten aufgeatmet, in den Kirchen der Schwarzen sei Jubel ausgebrochen.
    Das Leben in der Stadt ging seinen normalen Gang. Karl hatte die Wände seiner kleinen verschachtelten Zimmer mit großen Fotos bedeckt, Porträts der Städtebewohner, Weiße, Schwarze, Gelbe, Latinos. Je länger ich sie ansah, um so mehr übertrug ihre Anspannung sich auf mich. Ja, sagte Bob Rice, der natürlich auch da war und Allan, seinen Freund, mitgebracht hatte, wie lange soll das gutgehen? Diesmal ist der Kelch noch an uns vorübergegangen, ganz schnell werden wir Weißen wieder die Angst vergessen, die wir hatten. Und werden nicht wahrhaben wollen, wie dünn die Decke ist, auf der wir uns bewegen.
    Neben mir saß beim Essen ein alter jüdischer Professor, der sehr krank zu sein schien, ein Medizinpsychologe, der eine lange Zeit seines Arbeitslebens der Erforschung von Hitlers Psyche gewidmet hatte, ich glaubte zu verstehen, daß er das als eine Art Schuldigkeit gegenüber den ermordeten Juden empfunden hatte. Eines könne er mit Sicherheit sagen: Der Mann war impotent. Und seine Blindheit im Ersten Weltkrieg war eine hysterische Blindheit. Die Frau des Professors, einebetagte, elegante Dame, machte mir Zeichen, ich solle nicht weiter auf diesem Gespräch bestehen. Später flüsterte sie mir zu, das rege ihren Mann zu sehr auf. Erst da bemerkte ich, daß wir die ganze Zeit deutsch gesprochen hatten.
    Karl sagte, er wolle so bald wie möglich nach Deutschland gehen. Er wolle Gesichter in Ostberlin und in Westberlin fotografieren. Er wolle versuchen, diesen einzigartigen Augenblick festzuhalten. Ich sah vor mir eine Reihe der erschütterten Gesichter aus dem Wendejahr. Du mußt dich beeilen, sagte ich. Sie machen schon wieder zu. Sie fangen schon an, sich zu schämen, daß sie ein paar Wochen lang eine Hoffnung hatten und das auch gezeigt haben.
    Welche Hoffnung?
    Ich merkte, daß es mir schwerfiel, darauf zu antworten, es war, als würde ich die damals Hoffenden denunzieren, weil es so wirklichkeitsfremd, so peinlich, so lächerlich war, worauf sie, worauf wir gehofft hatten. Ich weiß kaum noch, was ich Karl antwortete. Vielleicht nannte ich Worte wie »selbstbestimmt«, oder »Gerechtigkeit«, oder »Solidarität«.
    Freiheit, schlug jemand vor.
    Ich hatte das Wort damals nicht gehört. Freie Wahlen, das ja. Reisefreiheit. Die Ziele waren meist konkret.
    Was alles so unter Freiheit läuft, sagte Peter Gutman.
    Er kam am nächsten Morgen mit zu den Häusern der Emigranten, Therese wollte sie uns zeigen, sie hatte sich ein bequemes Auto gemietet, sie arbeitete an ihrem Auftrag, über den Wahlkampf um den Bürgermeisterposten der Stadt zu berichten. Unsere erste Station war Mabery Road, das Haus, in dem Salka Viertel fünfundzwanzig Jahre lang gewohnt, ihre

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