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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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nicht an derartige Vorkommnisse, das soll ein für allemal klar sein. Sehr wohl erinnere ich mich an meine Gemütsverfassung, wenn Emily, die Amerikanerin, nach einem ausgezeichneten und reichlichen Dinner im Kreis ihrer Gäste ganz unbefangen über ihre »Psychic« sprach, eine Frau, die in Mexiko wohnte, über paranormale Fähigkeiten verfügte und ihr gerade mehr als zwei Stunden lang eine Menge Orakelsprüche am Telefon durchgesagt hatte, unter anderem die für Emily wichtige Mitteilung, daß ihre zwei Katzen, die in New York in Pension waren, gar nicht schon wieder umziehen wollten. Das zu erfahren ersparte Emily belastende Gewissensbisse. Ich weiß noch, daß ich schwieg und dachte: Das darf doch nicht wahr sein. Emily nannte sich »intellektuelle Marxistin«, auf jeden Fall Materialistin, doch hielt sie übersinnliche Erscheinungen für möglich, da wir ja nicht wissen könnten, was für Energien sich tief in unserem Unbewußten und im Kosmos herumtrieben. Und was war eigentlich, fiel mir ein, mit dem overcoat of Dr. Freud? Meinem Fetisch? – Nicht doch, sagte die andere Stimme in mir. Das war ja gegen die Psychic von Emily die reinste, glasklare Wissenschaft.
    Angelina ließ mich wissen, daß man nicht alles erklären müsse und daß ich im übrigen krank sei. Krank? Ich? Das bißchen Kopfschmerzen? – Und das Fieber? – Welches Fieber.
    Ich hatte einen heißen Kopf, aber wir hatten auch einen der heißesten Tage bisher. Ich schlug die Zeitung auf, die sich »Weekly World News« nannte und die ich im DELI mitgenommen hatte, als ich mir griechischen Salat und Brot gekauft hatte. Die Schlagzeile: »The most horrifying photo ever published!« Und dann, in Riesenlettern: FACE OF SATAN APPEARS OVER WACO! Und daneben das Foto der Brandwolke, die über dem Camp jener Sekte aufstieg, die sich selbst verbrannt haben soll, und in der ein Gesicht erschienen war, das so aussah, wie sich der kleine Moritz den Satan vorstellen mag. Diese Fratze sei über mehreren der großen Katastrophen der letzten Zeit aufgetaucht und ein Beweis dafür, daß der große Kampf zwischen Gott und Satan begonnen habe und daß nun ein jeder Mensch sich auf die richtige Seite stellen müsse.
    Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, vergaß die Kopfschmerzen, das Fröstelgefühl und versenkte mich in das Leben um mich herum, in das Blau des Himmels, die lebhafte Bewegung der halbnackten Körper am Strand, den feinen hellen Sand, den Wind, der aufgekommen war und mir über die Haut strich. Dies alles, sagte die Nonne, ist in diesem Augenblick genau so, wie es sein soll. Dein volles Leben. Let it be. Es wollte mir einleuchten.
    Abends hatte ich Schüttelfrost. Ich schlief sehr schlecht, ich hatte nicht essen können, ich wälzte mich unter feuchten Betttüchern, der Kopf dröhnte, Aspirin hatte nicht geholfen. Anstatt mich zu bemitleiden, verfolgte Angelina mich mit ihrem spöttischen Blick. Warum ich mir immer etwas einreden ließe, was nicht zu mir passe. Ob mir nicht endlich klargeworden sei, daß geduldiges Hinnehmen meine Sache nicht sei. Aber der Mensch kann sich doch verändern, hielt ich ihr entgegen. Angelina durchschaute natürlich, daß es mir darum ging, Leid zu vermeiden. Ob ich nicht bemerkte, daß ich immer noch aufder Flucht sei. Ich sagte, sie solle mich in Ruhe lassen. Sie verschwand.
    Es kam eine ältere Frau, Gertrud, in Hellblau, eine Art Schwesterntracht, gekleidet, und betreute mich sorgfältig und liebevoll, sie wollte mir gerade noch etwas Schönes kochen, das ich bestimmt essen würde, auf einmal ließ sie sich langsam auf die Seite fallen und begann zu sterben, was ich sofort begriff. Gertrud stirbt, dachte ich, da verwandelte sie sich vor meinen Augen in einen riesigen sterbenden Elefanten, der sehr traurig war und mich sehr traurig machte, dann war es wieder Gertrud in ihrem Bett, dann war sie tot. Dann fing ich an zu weinen. Ich kannte niemanden, der Gertrud hieß, mir fiel nur die alte Königin Gertrude in »Hamlet« ein, die ihren Mann mit dessen Bruder betrogen hatte.
    Dann war es Morgen, und an meinem Bett stand Angelina, ihr Staubtuch in der Hand, das verwunderte mich nicht. Ich sagte: Mein Engel, aber darauf ließ sie sich nicht ein. Sie sagte, ich sei krank, sie werde nicht den Staubsauger anstellen. Ob sie nicht einen Arzt holen sollte. Ich sagte: No doctor, und sie sagte: Yes, it is very expensive. Zu teuer. Angelina, sagte ich, auf englisch: Wir alle müssen sterben. Das war ihr nichts Neues, sie

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