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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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könnten, wenn wir unsere übrigens ziemlich überflüssigen Texte absonderten. Was habe doch Brecht über Thomas Mann gesagt: Der Mann ist blind und nicht bestochen. Wollen wir hoffen, daß man wenigstens das einmalvon uns wird sagen können, sagte Peter Gutman, natürlich auf deutsch. Wir haben doch alle keine Ahnung, sagte er. Da war er noch keine zehn Minuten in meinem Apartment, das solche Töne nicht gewohnt war. Das außer dem Fernseher und gelegentlich einem Lied, das ich leise vor mich hinsang, überhaupt keine Töne gewohnt war.
    Hallo, sagte ich. Was ist denn los. Auf deutsch. Wir sprachen jetzt beide deutsch. Da machte Peter Gutman seine charakteristische, abwehrend entschuldigende Handbewegung und kam zum Thema: Woher ich unseren anscheinend gemeinsamen Freund Efim denn nun wirklich kenne?
    Waren Sie jemals in Leningrad, seiner Stadt, aus der er ausgebürgert wurde? fragte ich ihn. Peter Gutman schüttelte den Kopf.
    Auch nicht in Sankt Petersburg, wie die Stadt heute heißt?
    Nein. Peter Gutman kannte Rußland nicht, er hatte Efim an einer Universität in Texas kennengelernt, wo beide einen Lehrauftrag hatten. Über verschiedene Etappen der deutschen Literatur – ich, der deutsch-englische Jude, er, der russische Jude, sagte Peter Gutman. Wir haben uns darüber amüsiert.
    Also, begann ich: Damals, als Etkind noch als Germanistikprofessor in Leningrad lehrte, haben wir mit der ganzen Familie in einem Schriftstellerheim in Komarowo, nahe bei Leningrad, Ferien gemacht.
    Jetzt versuche ich mich zu erinnern, was alles ich Peter Gutman an jenem ersten Abend erzählt habe, suche in allen möglichen Schubladen nach einem bestimmten Aktenstück, das meine Erinnerung untermauern würde. Wieder merke ich, die Akten, zu denen es gehört, habe ich lieblos und unaufmerksam behandelt. Lew Kopelew, euer Moskauer Freund, hatte Efim zu euch geschickt, eines Tages kreuzte er überraschend in seinem alten Pobeda vor dem Heim auf, um euch abzuholen. Eine Fahrt zu seiner Datscha in Richtung finnische Grenze, du erinnerst dich an Kiefernwald, Krüppelkiefern. Es war Spätsommer. Auf einmal flüsterte Efim: Ducken Sie sich!, worauf eure Köpfe hinterden Autoscheiben verschwanden und ihr unbehelligt an einem Militärposten mit quer über die Brust gehängter Kalaschnikow vorbeikamt. Die müssen nicht wissen, daß ich Sie hierherbringe, sagte Efim, und er brachte euch zu einem Holzhaus mitten im Wald, in dem es bunt und warm und gemütlich war, seine Frau empfing euch freundlich, seine beiden Töchter begannen mit euren Töchtern deutsch und russisch zu reden. Wenn ich mich recht erinnere, gab es zuerst Tee aus dem Samowar und Gebäck, und später wohl Pelmeni. Genau weiß ich noch, daß in der Stube, dort, wo in alten russischen Häusern sonst die Ikone und das Öllämpchen hängen, eine Ecke für Alexander Solschenizyn eingerichtet war: Fotos, Bücher, Briefe, du glaubtest sogar etwas wie ein ewiges Lämpchen zu sehen. Sie kennen ihn? hattet ihr Efim gefragt, und er hatte schlicht geantwortet: Wir sind befreundet. Dadurch war er für euch, besonders für die Töchter, in eine andere Kategorie von Lebewesen aufgerückt. Diese Freundschaft hat ihn und seine Familie die Heimat gekostet, ihm wurde vorgeworfen, Manuskripte von Solschenizyn versteckt und ihre Übersetzung im Westen vermittelt zu haben. Sie konnten es nicht beweisen, aber jeder, der ihn kannte, glaubte, daß sie ihn nicht ganz grundlos verdächtigten, auch ihr glaubtet das, habt ihn aber nie, auch später nicht, danach gefragt. Jedenfalls verlor er seine Arbeit, dann zwang man ihn zur Ausreise. In Paris, in einem hypermodernen Stadtteil, habt ihr ihn nach Jahren wiedergetroffen, seine Wohnung war mit Erinnerungsstücken besetzt und durchtränkt von Heimweh, an dem, wie ich glaube, seine Frau gestorben ist, obwohl die Diagnose lautete: Krebs.
    Und während ich mir das alles in Erinnerung rufe und eine Serie von Bildern vor meinem inneren Auge abläuft, habe ich nun auch das Schriftstück gefunden, nach dem ich gesucht habe, natürlich in dem Koffer mit den Kopien unserer Stasi-Akten, den ich nur selten und ungern öffne. Es ist das einzige Dokument in russischer Sprache unter diesen Akten, ein Bericht des NKWD an die deutsche Gegenstelle, in dem fein säuberlich derBesuch eines jungen Mannes in unserer Wohnung geschildert ist. Der hatte sich in euer Vertrauen eingeschlichen – das erzählte ich Peter Gutman an jenem Abend in Kurzform –, indem er Efims Namen am

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