Stadt der Engel
überwachen, er würde da sein, wenn alte Freunde zusammenkamen oder wenn ich mich mit neuen Freunden traf, how are you? würde er mich fragen, und ich würde nicht sagen müssen: Fine, sondern manchmal: Bad, und manchmal: It is very hard, und er wird sagen: I know, und einmal wird er mich zu einem bedeutsamen Abendessen bei GLADSTONE’S einladen, aber das kommt später.
Zuerst, nach jenem langen Tag mit den Neutra-Häusern, träumte ich einmal wieder von Emigration. Wir saßen in einem verrotteten Auto, es war klar, das »neue Geld« würde kommen, und dann hätten wir zu emigrieren, ein Mann mit breitem Gesicht und pelzüberwachsener Nase, der wohl befugt war, darüber zu entscheiden, bestätigte, daß wir dann zu »gehen« hätten. Ob viele »gehen« müßten, wollten wir wissen. Nein, sagte der Mann, die meisten wollten ja das neue Geld. Ich war mir im Traum meiner Stellung als Außenseiterin sehr wohl bewußt. Daß wir »gehen« mußten, tat mir weh. Wir könnten ein paar Sachen mitnehmen, hieß es, einige Frauen packten uns Kleidungsstücke ins Auto, dann drängten sich auch noch Mitfahrer hinein, das Auto wurde immer voller. Aber wir müßten uns doch noch von unseren Töchtern verabschieden, sagten wir. Die wüßten Bescheid, hieß es, und würden hierbleiben.
Und ich erinnerte mich beim Erwachen unserer Fahrten über Land, wenn du, den Atlas auf den Knien, das Land suchtest, in dem ihr Zuflucht finden könntet, und dieses Land nicht fandest und ihr euch beide spöttisch an Brechts Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus erinnertet ( Wirklich, Freunde, / Wem der Boden noch nicht so heiß ist, daß er ihn lieber / Mit jedem andern vertauschte, als daß er da bliebe, dem / Habe ich nichts zu sagen), und du eines Tages, nach einigem Blättern im Atlas, schließlich: Straßburg! riefst: Nicht Deutschland, doch deutsche Sprache. Aber insgeheim wußtest du, das war ein Spiel.
Ging es damals nicht auch gerade auf Weihnachten zu, in jenem düsteren Winter 1976, der die Konturen schärfte und euch in die Zange nahm. Aber was war es denn eigentlich, könnte ich mich doch jetzt, nach mehr als einem Vierteljahrhundert und so weit vom Ursprung dieses Unheils entfernt, in aller Ruhe fragen, was war es denn, das diesen atemberaubenden Schmerz auslöste, den du zuerst nicht erkanntest, dem du durch die finsteren, schlecht beleuchteten Straßen zu entkommen suchtest, die Friedrichstraße hinauf bis zur Chausseestraße, vor der Ecke die unscheinbare Drogerie, ein helles Schaufenster, Zahnpastatuben, Schwämme, Waschmittel, in dem ein vielzackiger, von innen rosa beleuchteter Weihnachtsstern hing, eine kleine banale Bühne, deren Anblick dir die Brust zusammenpreßte, so daß du plötzlich erkanntest und es wie eine Befreiung empfandest: Das ist ja Schmerz. Ein beinahe unerträglicher Schmerz um einen Verlust.
falsche empfindungen kann man bedauern, vielleicht sogar verfluchen, aber nicht zensieren oder ändern. jedenfalls dauert es jahre, jahrzehnte, ehe eine ehemals falsche empfindung nur noch falsch und keine empfindung mehr ist. und vielleicht heisst eben das sich verändern. aber man kann seine falschen empfindungen natürlich auch hätscheln.
Oder war es nicht doch einfach Angst, fragte ich mich, als ich von meinem Maschinchen aufsah. Angst kanntest du ja auch. Angst hattest du ja in jenem November 1976, von dem hier die Rede ist, als ihr von eurer Zusammenkunft bei dem Freund nach Hause fuhrt und in Gedanken den Weg jenes Protestbriefes verfolgtet, den ihr gemeinsam formuliert hattet und der in dem Augenblick, in dem ihr in eurer Wohnung angekommen wäret, womöglich gerade über verschiedene Stufen des »Apparats« zur »Nummer Eins« nach oben befördert und, als Kopie, über die Westagentur, der ihr ihn auch übergeben hattet, drahtlos aus der geteilten Stadt hinaus an diverse Radiostationen übermittelt wurde, die, auch wenn sie die ihnen auferlegte Sperrfrist einhalten sollten, mit ihren Sendungen einen Wirbel erzeugen würden, den ihr euch vage vorstellen konntet. Die sperren uns ein, sagte die Freundin/Kollegin/Genossin, die bei euch auf dem Rücksitz saß. Und daß sie den Sänger, den sie ausgebürgert hatten, auf euren Protest hin wieder ins Land lassen würden, das glaubtet ihr doch nicht wirklich, oder?, so fragten euch viele, manche wütend, manche ratlos, manche feige, und ihr sagtet: Doch, oder: Nein, je nachdem, wer mit euch sprach oder euch vorgeladen hatte, und je nachdem, ob ihr euch taktisch
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