Stadt der Engel
DER ENGEL ODER THE OVERCOAT OF DR. FREUD Mach das, sagte Bob, und dann kam sein großmütiges Angebot: Nimm dir alles, was du brauchen kannst.
Alles? fragte ich.
Alles, sagte er.
Das wird ein Buch werden, sagte ich, das ich nicht veröffentlichen kann.
Das ist deine Arbeitshypothese, sagte Bob, damit du nahe an die Dinge herangehst.
Das wird diesmal nicht genügen, sagte ich. Natürlich habe ich Angst.
Das kenne ich, sagte Bob. Take care of yourself.
Bei Tisch holte er ein Buch herbei, Gedichte, deutsch und englisch, ich sollte mir eins aussuchen, es auf deutsch vorlesen. Ich sah unter Barock nach und fand Paul Fleming:
An sich
Sei dennoch unverzagt, gib dennoch unverloren,
Weich keinem Glücke nicht, steh höher als der Neid,
Vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
Ich las es, glücklich, es wiedergefunden zu haben, tastete mich an den Worten entlang, die wieder aufstiegen, die du einst auswendig kanntest, gleich neben dem Gedicht hatten in deiner Schreibtischschublade die kleinen grünen Beruhigungspillen gelegen, mit denen du dich unempfindlicher machen wolltest gegen die Auseinandersetzungen mit den Leuten, die du noch für deine Leute hieltest. Noch hattest du gehofft, es würde sich alles als ein Mißverständnis erweisen.
Was dich betrübt und labt, halt alles für erkoren,
Nimm dein Verhängnis an, laß alles unbereut.
Tu, was getan muß sein, und eh man dir’s gebeut.
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.
Aber dann, erinnerte ich mich, in einer heftigen Auseinandersetzung, deren Anlaß und Verlauf mir plötzlich wieder gegenwärtig war, du solltest etwas zugeben, was du nicht zugeben konntest, sie gaben nicht nach, du auch nicht, da wußtest duplötzlich: Nein. Ich will nicht dasselbe wie die. Und das war eine bittere und befreiende Einsicht.
Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
Ist ihm ein jeder selbst. Schau alle Sachen an:
Dies alles ist in dir. Laß deinen eitlen Wahn,
Und eh du förder gehst, so geh in dich zurücke.
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
Dem ist die weite Welt und alles untertan.
Das muß ja nicht sein, dachte ich. Ein Wort wie »untertan« wird nicht mehr gebraucht.
Typisch deutsch, sagte Francesco. Erst wollt ihr euch selbst, dann gleich die ganze Welt beherrschen, und Karl, der Fotograf, sagte, »untertan« sei dasjenige deutsche Wort, das er am meisten hasse, vielleicht sei er dieses Wortes wegen aus Deutschland weggegangen. Ich hätte nicht gedacht, daß Karl ursprünglich Deutscher war, selbst wenn er deutsch sprach, hatte er einen leicht amerikanischen Akzent und mußte manchmal nach einem Wort suchen. Auf englisch, sagte er, könne man das gar nicht sagen: »untertan«. Wir lasen in der Übersetzung nach, da stand: The man who is master of himself and can control himself has the whole wide world and what is in it at his feet.
Na bitte, sagte Francesco. Das ist der entscheidende Unterschied: Ob du die Welt beherrschen willst oder ob sie dir zu Füßen liegt. Ja aber, sagte ich, sich selbst beherrschen sei doch nicht tadelnswert! Eben doch! schrie Francesco. Eure Selbstunterdrückung bringt ja das ganze Unglück hervor! Und dein Verhängnis annehmen – das fehlte noch! Wir hatten nicht wenig getrunken, streitlustig gingen wir das Gedicht Zeile für Zeile durch, einige Zeilen blieben vor Francescos Augen bestehen, die anderen ließ er fallen. Ich behauptete, das eine sei ohne das andere nicht zu haben: Unglück, Trauer seien das Unterfutter von Dr. Freuds overcoat, Francesco aber wollte Lebensfreudeund Lebensmut und Selbstbehauptung pur, ohne den Schatten der Melancholie, des Scheiterns und des Versagens. Also ohne den Hintergrund der deutschen Geschichte, sagte ich. Da wollte Francesco mir verbieten, mich am deutschen Unglück zu delektieren; eine lautstarke Diskussion kam in Gang. In eine plötzliche Stille hinein ertönte die Stimme der Lady von vorhin: Aber als die Mauer fiel, da haben Sie doch alle gejubelt, nicht wahr. Und sie konnte nicht verstehen, warum ihre schlichte Frage einen Lachsturm auslöste. Ich aber sagte: Oh yes! zu der Lady und blickte sie unverfroren an. I was so happy.
Bob, sagte ich, ich brauche das Gedicht. – I’ll fax it to you. Am nächsten Morgen würde ich es in meinem Postfach im office finden, ich würde es brauchen, ich würde es bald wieder auswendig können. Und Bob würde mich
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