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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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das war erprobt, es hatte keinen Sinn, hoffnungsvoll die Augen zu schließen.
    Bis ich, im Halbschlaf, das leise Klirren von Flaschen hörte, das war der homeless-Mann, der seinen Sitz an der Ecke der kleinen Straße hinter dem Haus hatte und nachts die Container nach Flaschen absuchte, für die er Pfand kassieren konnte, ich hörte das Klirren und merkte nicht, wie ich einschlief.
    Ein neuer Tag mit dem alten Tonband im Kopf, das in einer Endlosschleife lief und das wieder und wieder die Frage aufbrachte: Wie hatte ich das vergessen können? Ich wußte ja, daß man mir das nicht glauben konnte, man warf es mir sogar als mein eigentliches Vergehen vor – Vergehen, was für ein schönes deutsches Wort!
    Ich rief den Freund in Zürich an: Sie als Psychologe müssen es wissen: Kann man das vergessen? Daß sie mir einen Decknamen gegeben haben? Daß ich einen Bericht geschrieben habe? Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Na und? sagte er. Was weiter? Im übrigen: Man kann alles vergessen. Man muß sogar. Kennen Sie nicht den Satz von Freud: Ohne Vergessen könnten wir nicht leben? – Verdrängen! sagte ich. Und er: Nicht unbedingt. Man vergißt auch, was man nicht so wichtig findet. – Aber das kann es doch bei mir in diesem Fall nicht gewesen sein. – Wer weiß. Wie lange ist das denn her. – Dreiunddreißig Jahre. – Ach du lieber Himmel. Und woher wollen Sie heute wissen, was Ihnen damals wichtig war? – Das will ich rauskriegen. – Und wie? – Ich steig noch mal runter in diesen Schacht. – Viel Glück. Aber bitte: Vorsicht. Denken Sie dran, daß Sie zur Zeit ganz allein für sich verantwortlich sind. Daß niemand Ihnen das abnimmt. Und daß Sie, entschuldigen Sie schon, in einem seelischen Ausnahmezustand sind. – Und was sollte ich Ihrer Meinung nach tun? Eine Therapie anfangen? – Das wäre wohl das beste.
    Aber das kam ja nicht in Frage, ich brauchte ja keine Hilfe, ich durfte ja keine Hilfe brauchen, ich mußte ja alleine »damit fertig werden«, und erst sehr viel später, vielleicht heute erst,verstehe ich, daß dieses Beharren nicht so weit entfernt war von dem alten Denken, das mich, wie Peter Gutman später sagte, »in den Schlamassel« gebracht hatte. Ich blätterte in Büchern, auf der Suche nach Erleichterung. Ich fand Brechts Verse über die Stadt, in der jetzt ich lebte.

    Nachdenkend, wie ich höre, über die Hölle
    Fand mein Bruder Shelley, sie sei ein Ort
    Gleichend ungefähr der Stadt London. Ich
    Der ich nicht in London lebe, sondern in Los Angeles
    Finde, nachdenkend über die Hölle, sie muß
    Noch mehr Los Angeles gleichen.

    Stadt der Engel, dachte ich belustigt. Ich holte meinen feuerroten GEO aus der Garage, jedesmal eine Mut- und Geschicklichkeitsprobe, bei der mir möglichst niemand zusehen durfte, und fuhr wieder mal zur 26th Street. Brechts würfelförmiges Haus, in dem er mit Adorno und Eisler und Laughton diskutierte und über die unlösbaren ethischen Probleme des »Galilei« nachdachte, wurde von einem Mann bewohnt, den ich manchmal in seinem Garten sah und der bestimmt nicht wußte, wer vor ihm hier gelebt hatte. Wie oft mag Brecht dieses Haus verlassen haben, um nach Downtown zu fahren? Oder zu den Feuchtwangers in die Villa Aurora, wohin auch mein GEO mich brachte, hoch über den Klippen des Pazifik am Paseo Miramar? Wo einmal, vor Jahren, an einem unvergeßlichen Nachmittag, Marta Feuchtwanger euch die Bibliothek ihres Mannes vorgeführt hatte und wo jetzt in dem ausgeräumten Haus die Handwerker in Wolken von Steinstaub zugange waren. Wo Brecht mit dem »kleinen Meister«, der in eiserner Disziplin alle seine Tage seinem Werk widmete, politische und literarische Probleme besprechen konnte, in denen sie sich einig waren. Während er ja den anderen Meister, Thomas Mann, möglichst mied. Hat es das je gegeben, in der europäischen Neuzeit, daß die geistige Elite eines Landes fast ausnahmslosdieses Land verlassen mußte? Weimar unter Palmen. Wo habe ich das gehört?
    Oh, sagte ein alter Schauspieler zu mir, im grünen Hof hinter dem Schönberg-Haus in der North Rockingham Avenue, wo wir uns gegenüberstanden, jeder ein Glas Margarita in der Hand, I am Norman, sagte er, und er stellte mir seine Frau Peggy vor, die in eine Tschechow-Inszenierung gepaßt hätte, das weiße Haar zu einer Frisur der Jahrhundertwende hochgesteckt, lange altertümliche Ketten um den Hals geschlungen, stark gepudert, tieflila Lippenstift, Bluse und Rock auch aus dem Kostümfundus jener

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