Stadt der Engel
im Fernsehen darüber, wie sie die Emigranten während des Kriegs in den USA observiert haben, man sieht sie in den Autos sitzen, zum Beispiel vor dem Haus von Brecht, sie sehen aus, wie man sie sich vorgestellt hat, sie tragen die Hüte, die sie auch in entsprechenden Filmen tragen, die Dossiers, die aufgrund ihrer Berichte angelegt wurden, werden jetzt Wissenschaftlern auf Antrag ausgehändigt, die meisten Namen, ganze Abschnitte geschwärzt, die hätten den Observierten damals gefährlich sein können, inzwischen haben sie ihre Brisanz verloren.
Der Vorteil langandauernder Staatswesen liegt auch darin, dachte ich, daß ihre Geheimdienstarchive noch weit ergiebiger sein müssen als die beachtlichen Aktenkilometer des Ministeriums für Staatssicherheit, das nur vierzig Jahre lang seine Paranoia entwickeln und ausleben konnte, während das FBI seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zeitweise eine nationale Hysterie pflegte. So daß John Steinbeck sich nur für soziale Gerechtigkeit aussprechen, Faulkner für die Bürgerrechte der schwarzen Bevölkerung eintreten mußte, um eines eigenen Dossiers bei der Behörde gewürdigt zu werden. So daß der Verfolgungswahn Hemingways, der als einer der wenigen unter den sonst sorglosen Künstlern ahnte, daß er überwachtwurde, in einem neuen Licht erscheint, und auch die intensiven Befürchtungen Thomas Manns haben nun ihre Aktengrundlage bekommen: Er gehörte wegen »verfrühtem Antifaschismus« zu den Observierten.
Es ist alles eine Frage der Erziehung, sagte Horst, euer Seminargruppensekretär, es war das Jahr 1950, ihr kamt aus der Pädagogik-Vorlesung von Professor W., Horst sagte, dieses Gerede von Veranlagung, genetischem Material, Vererbung festgelegter Eigenschaften sei alles Humbug. Gebt mir dreißig Säuglinge, sagte er, die an ein und demselben Tag in ein und derselben Klinik geboren sind, gebt mir ein Heim, in dem ich sie aufziehen kann, abgeschottet von äußeren Einflüssen, und ich garantiere euch, sie werden sich in ihren Charakteren nicht voneinander unterscheiden und werden allesamt absolut das gleiche Verhalten an den Tag legen. Es war ein grauer Tag im Herbst, mitten auf der Straße in der Universitätsstadt Jena, und dir wurde unheimlich bei Horsts Rede, die du ihm aber nicht widerlegen konntest.
Sprache. Allmählich konnte ich anfangen, über die Unterschiede zwischen dem Englischen und dem Deutschen nachzudenken, trotz des reduzierten Gebrauchs, der mir im Englischen nur möglich war. Ich dachte, wieviel leichter ich sagen könnte: I am ashamed, als: Ich schäme mich, um wieviel näher das Deutsche bei ganz gleichem Wortlaut, bei ganz gleicher Bedeutung der Wörter meine Gefühlswurzeln anrührte, sich an sie heranschlich, sie umspielte, nährte, sie aber auch schmerzhaft traf, wie ja auch das englische Wort »pain« für mich niemals den Schmerz bezeichnen könnte, mit dem ich es zu tun hatte, it is painful, könnte ich ja ziemlich ruhigen Gemüts sagen, leichthin wie eine Lüge, dachte ich, während mir der Schweiß ausbricht bei der Vorstellung, sagen zu sollen: Es tut weh, und dabei an die Ursache meines Schmerzes denken zu müssen. Oder wie könnte »conscience« mir jemals unser deutsches Wort »Gewissen« ersetzen, ein Wort, in dem die »Bisse«schon enthalten sind, die Gewißheit der Gewissensbisse, wenn das Gewissen verletzt wurde, Gewißheit der Gewissenlosigkeit, darüber kann man sich ja niemals betrügen, dachte ich. Und was sollte es mir nützen, »Reue« durch »Bedauern« zu übersetzen, »ich bereue« also mit »I regret« auszudrücken: He (or she) regrets, what he (she) has done. Ich bereue, was ich getan habe. Oder nicht getan habe. Das geht nur auf deutsch. Vielleicht, weil es sich um deutsche Taten oder Unterlassungen handelt, dachte ich. Die fremde Sprache als Schutzschild, auch als Versteck.
Oder wie mir unerwartet das Wort »honest« widerfuhr, in dem Laden mit den indischen Kleidern in der Second Street, als es nach einer langen, von der einzigen, älteren Verkäuferin, die ein Englisch mit starkem indischen Akzent sprach, exzessiv geförderten Prozedur des Aussuchens und Anprobierens nun endlich ans Bezahlen ging und ich schon darauf gefaßt war, wieder nach der driver’s license gefragt zu werden, die hier als Ausweis galt, wenn man schon nicht cash, sondern mit Scheck bezahlen wollte, so daß ich gleich freiwillig zugab, ich hätte nur einen internationalen Führerschein, der hier ja nicht für voll genommen wurde, aber
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