Stadt der Engel
Intellektueller und Künstler in das Unheil handelte, in das diese Geschichte mündete. Der Professor verstand mich nicht, er wollte mir mit Zitaten aus dem Buch beweisen, daß er recht habe, ich war erstaunt, wie flach seine Interpretation war, und mußte die Höflichkeit wahren, aber doch auf meinem Standpunkt bestehen.
Das wiederholte sich, als der Professor sich für die Todesstrafe aussprach, nachdem Norman einen Fall geschildert hatte, bei dem Teenager in bestialischer Weise drei Kinder getötet hatten: Wozu sollten diese Teenager am Leben bleiben? Auch andere am Tisch waren dafür, sie mit dem Tode zu bestrafen. Ich gab meine Neutralität auf: Um unseretwillen, sagte ich, müßten die leben. Isoliert werden, sicher, daß sie keinen Schaden mehr anrichten könnten. Aber nicht getötet. Ob ich auch so reden würde, wenn es mein Kind beträfe. Da sagte einer am Tisch, so dürfe man nicht fragen. – Wo war wirklich die Grenze? Die Hinrichtung der Nazi-Massenmörder wurde ja auch von mir sanktioniert. Ich sagte noch: Man könne sich doch eineGesellschaft vorstellen, in der diese drei Teenager nicht so tief pervers geworden wären. Irrte ich mich, oder erntete ich spöttische Blicke? Mir war klar, daß die meisten Amerikaner diese Verbrechen als abhängig von der menschlichen Natur sehen: eine Frage der Moral, die man einzuhalten hat.
Schon am nächsten Tag, erinnere ich mich, fuhr ich noch einmal zum San Remo Drive hinauf, um vom Eingang her das Haus Thomas Manns zu betrachten, wo ich , wie er schreibt, länger als ein Jahrzehnt, natürlich auch dort, wie es überall gewesen wäre, dem Druck der oft würgenden Not der Zeit ausgesetzt, aber doch unter relativ milden und zuträglichen Umständen gelebt und gearbeitet habe . Ich unternahm es dann wieder, den Weg hinunterzufahren, den er oft gegangen ist, bis zur Ocean Park Promenade, zum Hotel Miramar, wo er von seiner Frau Katia mit dem Auto abgeholt wurde. Er wiederum quälte sich mit Nachrichten aus Deutschland, am 5. Dezember 1944: Störender und taktloser Artikel von Marcuse über meinen Atlantic-Aufsatz … Dummheit. Ein Artikel, in dem Marcuse Thomas Mann auffordert, daß er einmal, bei Gelegenheit, schonungslos über seine Vergangenheit schriebe – so schonungslos, wie es alle großen Bekehrten taten. Gemeint ist jene »Vergangenheit«, die Thomas Mann in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« dokumentiert hat. Die holte ihn nun also, immer noch als Mahnung, nach seiner Emigration, nach all seinen Rundfunkreden an das deutsche Volk, mitten in der Arbeit an der vielleicht schonungslosesten Auseinandersetzung mit der »Schuld der deutschen Intellektuellen« im »Doktor Faustus« ein.
Erinnerungsbilder: Die Modefarbe für weibliche officials scheint Karmesinrot zu sein, es kann passieren, daß Hillary Clinton und Barbara Bush und die Frau von Al Gore und noch einige Kongreßkandidatinnen vor dem amerikanischen Fernsehpublikum auf ein und derselben Bühne in eben dieser Farbe erscheinen. Aber das Rot, mit dem CBS am Wahlabenddie Staaten markiert, die schon an Clinton gefallen sind, ist dunkler. Eigentlich ist um fünf Uhr nachmittags, als ich in mein Apartment komme, schon alles entschieden, an der Ostküste werden die Wahllokale geschlossen, die Ergebnisse sollen zurückgehalten werden, bis es auch bei uns an der Westküste zwanzig Uhr ist, aber davon kann in dieser Mediengesellschaft natürlich keine Rede sein, wir sitzen, mehr als fünfzehn Leute, zu Rotwein, Brot, Chicken und Käse bei Ria und Pintus und beachten den Fernsehschirm kaum noch, alles brüllt durcheinander, die Amerikaner geben sich Mühe, uns Europäern das indirekte amerikanische Wahlsystem über Wahlmännerstimmen zu erklären, und erst als die siegreichen Protagonisten sich ihren Anhängern zeigen, finden sie wieder unser Interesse. Der Jubel, als Clinton mit Hillary auf einer Bühne erscheint, mein Vergnügen, als Hillary die Rede für Clinton aus ihrer Kostümtasche hervorholt. Bush soll am Freitag vor der Wahl den entscheidenden Stoß bekommen haben, als sich herausstellte, daß er von den Waffenlieferungen an den Iran nicht nur gewußt, daß er sie sogar befürwortet hatte; als er die Frage danach mit einer Handbewegung vom Tisch wischte und dazu noch verlauten ließ, sein Hund verstünde mehr von Außenpolitik als »diese beiden Clowns«, Clinton und Al Gore: Das brachte das Faß wohl zum Überlaufen. – Wir feiern.
Aber am nächsten Tag schon hörte ich in einer Radiosendung
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