Stadt der Engel
nichts anmerken lassen, weil du für Lorchen, die junge Genossin, ein Vorbild sein mußtest. Du warst sechsundzwanzig. Nicht erinnere ich mich an die Adresse, die euch zugeteilt war, nicht einmal an den Stadtbezirk, Westberlin war für dich eine fremde Welt. Dunkel sehe ich vor mir eine baumlose Straße mit vierstöckigen gutbürgerlichen Häusern zu beiden Seiten, deren Bewohner, soviel dämmerte dir wohl schon, vielleicht nicht die geeignetsten Objekte für eure Agitation sein mochten.
Bei eurer Einweisung war niemand auf die Idee gekommen, euch die banale Regel der Illegalen mitzuteilen, daß manFlugblätter in einem Haus niemals vom Erdgeschoß, sondern immer vom obersten Stockwerk aus zu verteilen hat – Emma hat es mir viel später, als ich ihr von unserem gescheiterten Einsatz erzählte, unter dröhnendem Lachen gesagt. Ihr begannt unten rechts. Es war eine dunkel gebeizte Tür, an der ihr klingeltet und die euch, zu deiner geheimen Erleichterung, nicht geöffnet wurde. Also warft ihr die Materialien, die für diese Wohnung bestimmt waren, durch den Briefschlitz in den Korridor. Und so verfuhrt ihr, immer schön von unten nach oben, bei allen Wohnungen dieses Hauses, da keine einzige sich vor euch öffnete. Hier sind wohl alle auf Arbeit, sagtet ihr euch. Es war früher Nachmittag. Als ihr, die Treppe herunterkommend, wieder im untersten Flur angelangt wart, stand dort ein Polizist in der Montur der Westberliner Stumm-Polizei und erwartete euch. Ich erinnere mich, daß dein Herz heftig zu klopfen begann, daß du dich aber beruhigtest: Der kann uns nichts.
Er konnte euch mitnehmen. Ihr hättet zwecks Identifizierung mit ihm aufs Revier zu kommen. Ob er sich eure Wahlhelferausweise überhaupt ansah, habe ich vergessen. Genau erinnere ich mich an das Licht, das euch vor der Haustür empfing: Ein Licht nach einem Regenschauer, wenn der Himmel sich gerade wieder klärt und die Sonne einen Nachmittagsschein auf die Straßen und Häuser der großen Stadt wirft. Und genau erinnere ich mich an den kleinen Jungen, fünf, sechs Jahre alt, der im Rinnstein hockte und Papierschiffchen schwimmen ließ. Wie er zu euch aufblickte, die Situation blitzschnell erfaßte und rief: Kommunisten! Alle aufhängen! Und wie du im Vorbeigehen stolz zu ihm sagtest: Da werdet ihr aber viel zu tun haben.
Danach warst du ruhiger. Das nächste Erinnerungsbild zeigt mir ein Polizeirevier, eines der altertümlichen mit holzverkleideten Wänden und einer Art Theke, hinter der der Wachtmeister vom Dienst saß. Der war ein älterer Mann und nicht zuständig für euren Fall. Er telefonierte nach einem Ranghöheren. Dann blätterte er eure Papiere durch und fand tatsächlichein Blatt, auf dem der Legalitätsstempel fehlte und das euch nun unversehens zu Illegalen machte. Er zeigte und erklärte es dir ganz genau, sachlich und ohne Triumphgefühl. Du bekamst eine Wut auf die Genossen im Gewerkschaftshaus, die euch reinen Wein hätten einschenken sollen, denn ihr wärt doch auch auf Agitation gegangen, wenn ihr gewußt hättet, daß nicht alle eure Materialien legal waren. Dir wurde klar, daß eure Lage nicht besonders rosig war, du mußtest sie also durch Haltung verbessern.
Ihr mußtet euch auf eine der unvermeidlichen Polizeiholzbänke an der Wand setzen. Lorchen hatte Angst. Ich erinnere mich, daß du sie durch halblaute Sätze zu beruhigen suchtest. Der Wachtmeister hatte das Bedürfnis, mit dir zu diskutieren. Es ging um die Nachteile der Diktatur und um die Vorteile der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Du gabst dir Mühe, sein falsches Weltbild zurechtzurücken. Endlich stöhnte er auf: Daß eine so kluge gebildete Frau so vernagelt sein konnte! Deine Antworten waren knapp, stolz und unnachgiebig. Schließlich forderte er dich auf, die Landkarte zu betrachten, die über eurer Bank an der Wand hing. Es war eine große violette Karte der Sowjetunion, in die eine Reihe kleiner gelber Vierecke eingezeichnet war, unregelmäßig über das Land verstreut, an manchen Stellen, besonders im Nordosten, gehäuft auftretend. Sehen Sie diese Vierecke? sagte der Wachhabende. Das sind alles Arbeitslager, Lager für politische Häftlinge. Da konntest du ihn ja nur bedauern, wenn er im Ernst annahm, das würdest du ihm glauben. Ich weiß noch, daß er dich ein Weilchen nachdenklich betrachtete und dann fragte, was du sagen würdest, wenn er dir versichern könnte, daß er selbst in einem solchen Lager gewesen sei. Ach so einer sei er also! Ein
Weitere Kostenlose Bücher