Stadt der Engel
seinem Büro angetroffen hatte, er schien mit wichtigen Papieren beschäftigt. Wer soll dieses Ich sein, das da berichtet. Es ist ja nicht nur, daß ich vieles vergessen habe. Vielleicht ist noch bedenklicher, daß ich nicht sicher bin, wer sich da erinnert. Eines von den vielen Ichs, die sich, in schneller oder langsamer Folge, in mir abgelöst haben, die mich zu ihrem Wohnsitz gewählt haben. Wen also zapft das Instrument Erinnerung an? Tja, sagte Peter Gutman, mit diesem Schrecken leben wir doch alle: Daß wir uns nicht wiedererkennen.
Nimm bloß mal die Nachkriegszeit, sagte ich. Der Führer war tot. Eine Leere breitete sich in dir aus. Ihr hattet in der Kleinstadt, in die es dich nach eurer Flucht aus dem Osten verschlagen hatte, einen tüchtigen Pfarrer, der war klug und anziehend für euch Oberschüler, er lud euch ein, euch unter seiner Anleitung auf neue Art und Weise dem christlichen Glauben zu nähern: Einer Kampfreligion. Stark griff er in die Tasten: So müsse man »Ein feste Burg ist unser Gott« spielen und singen, so habe Luther es gemeint, in fröhlichem Streit das Leben als Christenmensch bestehen. Eine Zeitlang gingst du sonntags in die Kirche, saßest auf der Empore und hörtest ihn predigen, fröhlich und streitbar und klug, warum eigentlich nicht, dachtest du. Aber dann, nach einigen Monaten, mußtest du doch zu ihm gehen und ihm sagen, daß du nicht mehr kommen würdest, zu vieles an seiner Religion könntest du nicht glauben, weder die unbefleckte Empfängnis noch die Auferstehung von den Toten, noch das Weiterleben nach dem Tod. Schade, sagte er. Aber du solltest Geduld mit dir haben, auch er habe spät zu seinem Glauben gefunden, auch du könntest noch nicht wissen, was Gott mit dir vorhabe.
Das erzählte ich Peter Gutman als Beweis, daß ich nicht mehr anfällig für Glauben war. Der neue Glauben mußte ein anderes Einfallstor gefunden haben. Er kam listigerweise über den Kopf.
Ja, sagte Peter Gutman. Denkst du, du bist die einzige, die an die Unwiderstehlichkeit der Vernunft geglaubt hat?
Rhetorische Fragen wollten wir uns doch verkneifen. – Selbstverständlich mußte die alte Gesellschaft, deren herrschende Klassen das Unheil verursacht hatten, vollkommen umgewälzt werden. Selbstverständlich sollten die bisher Unterdrückten nun ihre Chance bekommen. Und sie bekamen sie. Der Staat förderte die armen Leute, Familien, die bisher Fabrikarbeiter und Putzfrauen hervorgebracht hatten, ließen ihre Söhne und Töchter studieren, ein neuer Zug kam an die Universitäten, war das vielleicht schlecht?
Nein, sagte Peter Gutman, wer behauptet denn das.
THE SECRET LIFE OF MR. HOOVER. Pünktlich zu Beginn der Clinton-Ära, die nicht, wie Clinton es versprochen und versucht hat, mit der Diskriminierung der Homosexuellen in der Armee ein Ende machen konnte, wurden Enthüllungen über J. Edgar Hoover angekündigt, der achtundvierzig Jahre lang, bis 1972, Chef des amerikanischen Geheimdienstes FBI war und der, wie man nun erfuhr, ein vom »Normalen« weit abweichendes Sexualleben führte und eben deshalb – durch entsprechende Fotos in den Händen der Mafia – erpreßbar war, was, unter anderem, mit dazu führte, daß das FBI eine zentrale Institution zur Anheizung des Kalten Krieges wurde und seine Operationen nicht etwa auf die kriminelle Szene, sondern auf die Kommunistische Partei der USA konzentrierte, die sich zwar schon seit 1956 so gut wie aufgelöst hatte, auf deren Restbestände Hoover aber immer noch, als Robert Kennedy Justizminister wurde, tausendfünfhundert Agenten angesetzt hatte, während das organisierte Verbrechen sich 1959 mit schäbigen vier Agenten begnügen mußte, berichtete die Zeitung. Denschockierten Innenminister der britischen Labour-Regierung ließ Mr. Hoover noch 1966 nicht ohne Stolz wissen, daß er »über jeden bedeutenden US-Politiker, und vor allem über ihre liberalen Vertreter, so detailliertes und vernichtendes Material besitze, daß seine Position unangreifbar sei«. Mit Hilfe dieses Materials hatte er bis Anfang der siebziger Jahre ein riesiges Netzwerk von geheimen Manipulations- und Erpressungsoperationen aufgebaut, das seine Kampagne gegen die Neue Linke, die Bürgerrechtsbewegung und die Anti-Vietnam-Bewegung unterstützte. Ich verstand jetzt den Stoßseufzer einiger amerikanischer Freunde nach der Clinton-Wahl besser: Endlich ein Präsident, der nicht vom Geheimdienst kommt.
Inzwischen reden ja die altgedienten FBI- und CIA-Agenten unbekümmert
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