Stadt der Engel
Antwort: eine verzagte Frauenstimme. Flüsternd, halblaut sprechend, immer wieder unterbrochen durch die Geräusche des Gefängnisalltags, konntest du die wichtigsten Informationen über die Lage deiner Zellennachbarin herausbekommen: Sie kam auch aus der DDR, und man warf ihr Spionagetätigkeit in Westberlin für das Ministerium für Staatssicherheit vor. Es war unüberhörbar: Diese Frau hatte wirklich Angst. Da fiel dir ja nun eine Aufgabe zu: Du mußtest sie aufrichten und ihren Widerstandsgeist stärken, der am Erliegen war. Natürlich fragtest du sie nicht, ob etwa an der Anschuldigung etwas dran sein mochte, du beschworst sie nur, nichts zuzugeben. Man könne ihr doch bestimmt nichts beweisen. Da schien sie sich nicht so sicher zu sein. Einmal, als du von einer Polizistin, die dir Verachtung zeigte, zum Verhör geholt wurdest, sahst du deine Zellennachbarin zwischen zwei baumlangen amerikanischen Militärpolizisten vor dir den langen Gang hinuntergehen, eine kleine, schmale Person mit dünnem farblosen Haar. Spioninnen hattest du dir anders vorgestellt.
Dann waren die Wahlen vorbei, mit schmählichem Ausgang für die Kommunisten. Das Interesse an dir erlosch, du wurdest entlassen, zwei dir unbekannte Studenten holten dich an der Gefängnispforte ab, sie hatten Blumen dabei und schmuggelten dich mit ihren Fahrausweisen in die S-Bahn, da sie es unvertretbar fanden, euer gutes Ostgeld umzutauschen, um für Westgeld eine S-Bahnfahrkarte zu kaufen.
Ich weiß noch, wie erleichtert du warst, als du an eurer Wohnungstür klingeln konntest. Als deine kleine Tochter dir aus der Badewanne entgegensah. Ich glaube, kein Bild von ihr aus jener Zeit hat sich mir so eingeprägt wie dieses, und ich weißnoch, daß der zuerst fremde Blick der Tochter dir einen Stich gab und daß die Frage in dir aufkam, ob dieser ganze Einsatz sich dafür gelohnt hatte, daß dein Kind dich über eine Woche lang missen mußte.
Überflüssig zu sagen, daß deine dringliche Beschwerde bei den Genossen im Gewerkschaftshaus, weil man euch über den Charakter des Agitationsmaterials nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, milde, aber bestimmt abgewehrt wurde. Die leitenden Genossen hätten sich etwas dabei gedacht, da könnest du sicher sein. Und im übrigen habest du dich ja bestens bewährt. Aber weil du dich bewährt hattest, konntest du uneinsichtig bleiben, konntest ihnen auch noch deine Meinung sagen über die miserable Qualität dieses Materials, und daß es, neben allen anderen Mängeln, auch noch schlecht geschrieben gewesen sei. Da hörtest du zum ersten Mal den Vorwurf, der dich von jetzt an begleiten sollte: Ästhetizismus.
Wäre »dogmatisch« das richtige Wort, frage ich mich, um die Person zu kennzeichnen, die du damals warst? Kompromißlos. Konsequent. Radikal. Das wären auch so Worte, die mir einfallen. Und vor allem: Im Besitz der Wahrheit, was ja unduldsam macht. The overcoat of Dr. Freud. Und wenn ich den Mantel umdrehte? Das Innere nach außen kehrte? Eine Be-Kehrung beschreiben würde, aufhören könnte, unduldsam gegen mich selbst zu sein? Gerade jetzt? dachte ich. Wann sonst, wenn nicht jetzt. Aber es war nicht möglich.
Ich saß im Frisierstuhl, das Gesicht im Spiegel mißfiel mir wie meistens, wenn ich gezwungen bin, es lange anzusehen, in diesem Salon gab es ein ausgeklügeltes timing, zuerst hatte ein Lehrling namens Jerry mir einen Umhang umgelegt und mein Haar gewaschen, dann ließ sich eine Art Chefdesigner beschreiben, wie ich mir meinen Haarschnitt wünschte, in Gegenwart von Caroline, die mich nun gewandt und schnell bediente, ohne Zögern, ohne einen überflüssigen Handgriff, dachte ich. Es hatte sie aus München hierher verschlagen, das erste Jahr sei hart gewesen, ohne Sprachkenntnisse, jetzt aber,schien mir, sprach sie perfekt. Und hatte man nicht unduldsam sein müssen, dachte ich, das Tonband in meinem Kopf stand keine Sekunde still, gegen diejenigen, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten, während wir doch radikal, von der Wurzel her, die Gründe für den Irrweg der Gattung beseitigen würden. Caroline erzählte von ihrem Mexiko-Urlaub, Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, was denn sonst, ihr wart frei, den Schritt zu tun von der Vorgeschichte in die Geschichte des Menschen, ihr befreitet euch ja von den Irrtümern, den tief eingebrannten Gewohnheiten der alten Zeit, zu denen nicht zuletzt die Gier nach Besitz gehörte, eine für euch, die ihr nichts besaßet, kaum verständliche
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