Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
ging mir ein Licht auf. »Dann war das Aufreißen der Haut eine Illusion. Eine Einschüchterungstaktik.«
»Genau. Sie haben so getan, als würden sie ihre Menschenhaut abwerfen, weil sie euch einen Schrecken einjagen wollten. Rakshasas sind überaus arrogant und gerissen, dabei aber nicht sonderlich klug. Ihr sagenhafter König Ravana ist da ein gutes Beispiel: zehn Köpfe und trotzdem nicht allzu viel Grips. Der fliegende Palast, den ihr gesehen habt, ist höchstwahrscheinlich Pushpaka Vimana, ein antikes Fluggerät. Ravana hatte es dem ursprünglichen Besitzer geklaut und flog darin umher, als er Shiva, dem Weltzerstörer, begegnete, der gerade ruhte.« Dali legte eine dramatische Pause ein.
Hinduistische Mythologie war zwar nicht gerade meine Stärke, aber über Shiva wusste ich Bescheid. Ein Gott, der den Beinamen »der Weltzerstörer« trug, war schließlich nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Wenn er nicht gerade das Leben am heimischen Herd genoss, bei seiner Frau und seinen beiden Söhnen, streifte er gern durch die Wälder, von Kobras umwunden und in ein noch blutnasses Tigerfell gehüllt. Mit einer Berührung seines kleinen Fingers brachte er die furchtbarsten Bestien zur Strecke. In seinem wütenden Aspekt war er Rudra, ein fürchterlicher Sturm. In seinem gütigen Aspekt hingegen ließ er sich leicht belustigen. Auf der Stirn hatte er ein drittes Auge, das, wenn es nach außen gerichtet war, alles verbrannte, was ihm in den Weg kam, und immer wieder das gesamte Universum zerstörte. Kurz gesagt, alles, was irgendwie mit Shiva zu tun hatte, musste mit Samthandschuhen angefasst werden … während man einen Schutzanzug trug … oder sich besser noch in einem gepanzerten Fahrzeug befand.
Dali lächelte. »Ravana gelang es, Shiva auf die Nerven zu gehen, und der Weltzerstörer steckte ihn in einen steinernen Käfig. Darin musste Ravana hocken und singen, bis Shiva keinen Bock mehr hatte, ihm zuzuhören, und ihn wieder freiließ. Ravana war das Musterbild eines Rakshana: Er war arrogant und auf Prunk versessen, und er ließ sich ausschließlich von seinen Impulsen regieren. Er war so, wie sie alle gerne wären. Ihr habt es hier mit entsetzlichen Angebern zu tun, die felsenfest von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt sind. Für die seid ihr weiter nichts als amüsantes Futter oder ein bewunderndes Publikum. Sie stellen alles Mögliche an, um dramatische Effekte zu erzielen, und ihnen geht einer ab, wenn sie sich gut in Szene setzen können.«
Jim und ich sahen einander an. Wenn man von so was einen Kick bekam, war man bei den Midnight Games genau richtig.
Ich drehte meinen Becher um, doch es kam nicht einmal mehr ein Tröpfchen Kaffee herausgeronnen. Dennoch war die Tatsache, dass sie sich dermaßen in Szene setzen konnten, vermutlich weiter nichts als ein netter Nebeneffekt. In der Hauptsache ging es ihnen um den Edelstein. Weshalb waren sie so dahinter her? Ich schwamm in einem Meer von beliebig wirkenden Informationen und konnte mir einfach keinen Reim darauf machen. Ich setzte dazu an, mich bei Dali nach dem Topas zu erkundigen, doch Jim kam mir zuvor.
»Kannst du das mit dem Dschungel erklären?«
Sie verzog das Gesicht. »Nein, keine Ahnung. Es könnte ein Gebiet sein, in dem starke Magie herrscht. Oder das Tor zu einem magischen Dschungelland. Ich bräuchte mehr Informationen, um diese Frage zu beantworten. Apropos: Ich bin echt durstig, meine Zunge ist schon ganz ausgetrocknet.«
Dali leckte sich über die Lippen, und Jim ging in die Küche und holte ihr ein großes Glas Wasser. Sie trank es in einem Zug halb aus. »Also, die Rakshasas hassen uns.«
»›Uns‹ im Sinne von ›Gestaltwandler‹ oder ›uns‹ im Sinne von ›normale Menschen‹?«, fragte ich.
»Beides. Womit wir wieder bei Ravana wären. Ravana war ein ziemlich ehrgeiziger Typ. Er hatte zehn Köpfe, und jedes Jahrhundert opferte er einen dieser Köpfe, indem er ihn sich abschlug. Als er schließlich nur noch einen einzigen Kopf besaß, konnten die Götter es nicht mehr ertragen, stiegen in ihrer ganzen himmlischen Herrlichkeit herab und fragten ihn, was er denn wollte, damit er endlich damit aufhörte. Und er verlangte, vor jeder Rasse gefeit zu sein, außer vor den Menschen und den Tieren. Uns hielt er nämlich für zu schwach und zu klein, als dass wir ihm was hätten anhaben können. Und als ihm sein Wunsch erfüllt worden war, machte er sich daran, den Himmel zu erobern. Er brannte die Stadt der
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