Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
abrupt nur wenige Schritte vor mir und erstreckte sich etwa zwei Meilen weit, ehe sie sich in der Ferne hinter einer Linksbiegung verlor. Unmengen von Altmetall lagen auf dem Grund dieser Schlucht und zogen sich hangförmig die Steilwände hinauf. Hier und dort ragten Gruppen massiver, gekrümmter Metallspitzen, dreimal so groß wie ich, aus dem Schrott empor, als wären es die Klauen eines vergrabenen Riesenbären. Über diesem kleinen Grand Canyon kreisten, von den Winden getragen, zwei große, storchenartige Vögel.
Wo zum Teufel war ich hier?
Ganz unten, auf dem Grund der Schlucht, lag ein großes, eingedrücktes Metallgebilde inmitten des ganzen Schrotts. Es sah so aus, als hätte ein Riese, der gerne naschte, einen Flugzeugschuppen gepackt und gedrückt, um zu sehen, ob er mit Sahne gefüllt war. Wenn ich ein Versteck brauchte, würde ich mich an diesen Schuppen halten.
Einer der Vögel stieß in meine Richtung ein Stück weit vom Himmel herab. Aus seinen orangefarbenen Schwingen löste sich ein leuchtender Funke und ging mit metallischem Klang ein paar Meter vor mir zu Boden. Ich überwand einen Knäuel rostiger Rohrleitungen und kletterte zu der Stelle, an der er gelandet war. Es war eine Feder. Eine perfekt geformte Vogelfeder, unten rot und an den Rändern smaragdgrün. Ich schnippte mit einem Finger gegen den Federkiel. Es klang metallisch. Ach du heilige Scheiße. Der Kiel war aus Metall, geformt wie ein Messer und scharf wie ein Skalpell. Was ich da in der Hand hielt, war die Feder eines stymphalischen Vogels.
Ich zog mein Messer aus der Gürtelscheide und hebelte die eigentliche Feder ab, wobei ich es gerade so schaffte, mir nicht in den Finger zu schneiden. Ein Vogel direkt aus der griechischen Mythologie. Na, wenigstens war es keine Harpyie. Ich verstaute das Federkielmesser in einer freien Schlaufe an meinem Gürtel, steckte die Feder in meine Messerscheide und begann den Hang hinabzusteigen. Mythologische Wesen neigten dazu, in Gruppen aufzutreten: Wenn es in einem Wald einen russischen Leshii gab, stieß man im nächsten See sehr wahrscheinlich auf einen russischen Vodyanoi. Wenn hier am Himmel griechische Vögel kreisten, fiel am Boden bestimmt gleich irgendein anderes griechisches Vieh über mich her. Und wenn ich weiter so viel Glück hatte, war es kein schöner griechischer Halbgott auf der Suche nach der Liebe seines Lebens oder auch nur der Liebe der nächsten zwei, drei Stunden. Nein, es würde irgendetwas Garstiges sein, ein Zerberus etwa oder eine Medusa. Ich sah argwöhnisch zu dem Hangar hinüber. Womöglich wimmelte es darin ja von Leuten mit Schlangenfrisuren.
Auf halber Strecke in die Schlucht hinab gönnte mir das Universum eine weitere Woge der Magie. Der Wind trug einen beißend bitteren Gestank herbei. In der Ferne hörte ich Schläge, wie von einem Holzhammer, der in einem benommen machend monotonen Rhythmus auf eine Trommel einschlug: Woumm, Woumm, Woumm .
Fünf Minuten später, verschwitzt und mit Rostflecken übersät, kam ich zu dem Schuppen. Leise drangen Stimmen durch die Metallwände. Ich konnte kein Wort verstehen, aber da drin war jemand.
Ich drückte ein Ohr an die Wand.
»Und was ist mit meiner Mom?«, fragte eine Mädchenstimme.
»Ich muss jetzt weg.« Etwas tiefer und männlich. Und diese Stimme hatte ich schon mal gehört.
»Du hast es versprochen!«
»Die Magie wogt jetzt, klar? Ich muss weg.«
Die Stimmen klangen jung. Ein Mädchen und ein Junge.
Die einzige Tür, die ich sah, hing schief in den Angeln und hätte Lärm gemacht, wenn ich versucht hätte, sie zu öffnen.
Ich trat die Tür auf und ging hinein.
Der Flugzeugschuppen war bis auf einen großen Haufen zerbrochener Holzkisten leer. Durch die Löcher im Dach schien Licht herein. Statt auf einem Boden ruhten die verbogenen Metallwände auf der nackten Erde. Und genau in der Mitte befand sich ein Ring aus kaum sichtbaren weißen Steinen. Sie schimmerten schwach, wären sehr gern unsichtbar gewesen, gaben sich große Mühe, aus der Sichtbarkeit zu entschwinden.
Es war ein Wehr. Und zwar ein sehr gutes.
»Jemand zu Hause?«
Ein Junge trat hinter den Holzkisten hervor. Er hielt eine tote Ratte am Schwanz gepackt. Er war klein, ausgemergelt und schmutzig. Zerlumpte, oft geflickte Kleider hingen an ihm herab. Sein braunes Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab, wie das Stachelkleid eines hysterischen Igels. Er hob die rechte Hand und befingerte einen Hanfbindfaden, an dem ein Dutzend Knochen,
Weitere Kostenlose Bücher