Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
Federn und Perlen festgebunden waren. Trotz seiner spitzen Schultern und dünnen Arme sah er mich unverhohlen herausfordernd an. Es dauerte keine Sekunde, dann wusste ich wieder, woher ich diesen Blick kannte.
»Red«, sagte ich. »Das ist ja ’n Ding, dass ich dich hier treffe.«
Er erkannte mich ebenfalls und ließ die Hand sinken. »Es ist okay!«, rief er. »Ich kenne sie.«
Ein schmutziger Kopf lugte hinter dem Kistenhaufen hervor, und ein mageres Mädchen kam zum Vorschein. Sie war zehn oder elf Jahre alt und eindeutig unterernährt. Eine rußige Haarwolke rahmte ihr schmales Gesicht ein und ließ die tiefen Ringe unter ihren Augen noch tiefer erscheinen. Sie blickte, als wäre sie bereits von der Skepsis der Erwachsenen infiziert, ihr aber noch nicht ganz erlegen. Das Leben hatte ihr übel mitgespielt, und wenn sich ihr nun eine Hand entgegenstreckte, biss sie erst hinein und schaute erst dann nach, ob sich darin womöglich etwas zu essen befand. Sie hielt ein großes Messer, und ihr Blick verriet mir, dass sie nicht zögern würde, es auch zu benutzen.
»Wer bist du?«, fragte sie mich.
»Sie ist eine Söldnerin«, sagte Red.
Er griff sich unters Hemd und zog einen Stapel Papiere hervor, der von einer Schnur zusammengehalten wurde. Er wühlte mit seinen schmutzigen Fingern darin herum und legte mir schließlich einen kleinen Zettel in die Hand. Meine Visitenkarte, mit einem braunen Daumenabdruck befleckt. Der Abdruck stammte von mir, das Blut von Derek, meinem Werwolf-Wunderknaben.
Derek und ich hatten uns nach einem schlimmen Kampf, der nicht allzu gut ausgegangen war, nach Hause geschleppt. Derek hatte am Bein eine klaffende Wunde davongetragen, und der Lyc-V, der Virus, dem die Gestaltwandler ihre Existenz verdankten, hatte ihn irgendwann unversehens stillgelegt, damit er das Bein flicken konnte. Als wir Red begegneten, versuchte ich gerade vergeblich, meinen bewusstlosen und blutenden Verbündeten auf mein Pferd zu wuchten. Red und seine kleine Bande von Kinderschamanen halfen mir dabei, und anschließend hatte ich Red meine Visitenkarte gegeben und das Versprechen, ihm beizustehen, wenn er mal Hilfe brauchen sollte.
»Du hast versprochen, dass du mir hilfst. Du bist mir was schuldig.«
Das kam mir jetzt zwar ziemlich ungelegen, aber man kann es sich ja nur selten aussuchen, wann man so eine Schuld begleicht. »Ja, das stimmt.«
»Pass auf Julie auf.« Er wandte sich an das Mädchen. »Bleib bei ihr, sie ist okay.« Dann huschte er beiseite und zur Tür hinaus. Ich lief ihm nach und sah, wie er den Hang hinaufstieg, in einem Tempo, als wäre ihm ein ganzes Wolfsrudel auf den Fersen.
Kapitel 4
B löder Scheißkerl!«, schrie das Mädchen. »Ich hasse dich!«
»Wieso ist er denn jetzt weggerannt?«
»Weiß ich doch nicht!« Sie hockte sich auf den Kistenstapel. Ihr Gesicht war ein Bild des Jammers.
»Du bist also Julie.«
»Und du bist also ein Blitzmerker. Und bloß weil mein Freund Wunder was von dir hält, werd ich noch lange nicht auf dich hören. Wie willst du mich denn überhaupt beschützen? Du hast ja nicht mal ’ne Knarre.«
»Ich brauche auch keine Knarre.« Mir fiel inmitten der Kisten etwas auf, das metallisch glänzte. Ich ging zu dem Stapel hinüber. »Wovor soll ich dich denn beschützen?«
»Weiß ich doch nicht!«
Ich spähte in den Kistenstapel hinein. Es war ein abgebrochener Armbrustbolzen, der in einem Brett steckte. Ein blutroter Schaft. Die Fiederung fehlte, aber ich hätte gewettet, dass sie aus drei schwarzen Federn bestanden hatte. Mein Armbrustschütze war hier gewesen und hatte seine Visitenkarte hinterlassen.
»Was machst du überhaupt hier?«, fragte Julie.
»Ich bin auf der Jagd.«
»Und was jagst du so?«
Ich ging zu dem Ring der Steine, kniete mich davor und versuchte, einen Stein herauszugreifen. Meine Finger glitten hindurch wie durch Luft. Wer auch immer dieses Wehr errichtet hatte, wollte unbedingt verhindern, dass dieses Versteck gestört wurde. Das Problem mit Wehren war bloß, dass sie manchmal nicht nur etwas verbargen. Manchmal hielten sie auch etwas zurück. Und ein Wehr dieses Kalibers mochte durchaus etwas Abscheuliches zurückhalten. »Wo sind wir hier?«
»Hä? Spinnst du?«
Ich sah sie an. »Ich bin von Warren aus durch einen unterirdischen Gang hierhergelangt. Ich weiß nicht, was das hier für eine Gegend ist.«
»Das ist die Honeycomb-Schlucht. Früher war das mal der Southside-Park. Jetzt ist es wie ein Magnet für alles
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