Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
knickte in der Hüfte ein und hielt mir den Brustkorb. Dann ging der Schmerz in einen berauschenden Machtschub über, der mir bis in die feinsten Blutgefäße schoss, sodass mein ganzer Leib vor Magie erbebte. Ein ungeheures Hochgefühl hob mich empor, als wären mir mit einem Mal Flügel gewachsen.
Überall in dem üppigen Grün öffneten sich leuchtende Blüten. Das Astwerk der Bäume raschelte, die Schlingpflanzen wanden sich, honigsüße Düfte erfüllten die Luft.
Derek trat aus dem grünen Schummerlicht, lautlos, wie auf Samtpfoten, und sah mich mit Wolfsaugen in einem Menschengesicht an. Es überlief mich eiskalt.
Der Vampir hockte am Wegesrand. Er zitterte und blickte zu Boden.
Dann hob er den Kopf, und seine Augen leuchteten rot. Er öffnete das Maul, aber es drang kein Laut daraus hervor. Er bleckte nur seine beiden langen, gelblichen Reißzähne. Und ich zeigte ihm mein Schwert. Ich habe zwar nur einen Zahn, aber der ist viel länger als deine und wird das zähe Fleisch an deinen Knochen in null Komma nichts in Schleim verwandeln .
»Kein Grund zur Besorgnis«, sagte Ghastek. »Er ist ganz brav.«
Der Vampir kam näher, bog den Rücken durch und strich an meinem Bein entlang.
Es kostete mich meine gesamte Nervenstärke, nicht vor ihm zurückzuweichen. »Wenn du das noch mal machst, bringe ich ihn um.«
»Ich habe mich schon immer über deine Abneigung gegen die Untoten gewundert. Was stört dich denn so an ihnen?«
»Ein Vampir ist ein wandelnder Leichnam. Der Untod dringt ihm aus allen Poren, und das widert die Lebenden nun mal an. Er ist vollkommen hirnlos, und wenn man ihn sich selbst überlassen würde, würde er alles niedermetzeln, bis nichts mehr zum Niedermetzeln übrig wäre. Und anschließend würde er sich selbst fressen. Was soll daran sympathisch sein, Ghastek?«
Und vor allem hatte Roland sie erschaffen. Sie waren seine Geschöpfe.
»Ihre Nützlichkeit überwiegt bei Weitem ihre Nachteile«, erwiderte Ghastek.
Ich reckte mein Schwert in Richtung Park. »Wenn das so ist, soll er vorausgehen. Dann wollen wir auch ein wenig von seiner Nützlichkeit profitieren.«
Ghastek nahm die Anregung auf, und so gingen wir im Gänsemarsch weiter: ein Vampir, ein Mensch, der kurz davorstand, sich in eine Bestie zu verwandeln, und ich.
Der Baldachin aus Laub reichte nun so weit herab, dass ich mich tief bücken musste. Ich eilte hindurch, und die Zweige haschten nach meinem Zopf, doch schließlich schlüpfte ich auf eine Lichtung.
Hier ragten Kiefern empor. Sie wirkten wie die Masten eines unter uns begrabenen Segelschiffs. Ihre Kronen dämpften den grellen Sonnenschein. Der mit etlichen Jahrgängen weicher Kiefernadeln bedeckte Boden gab unter meinen Schritten nach. Feuchtigkeit lag in der Luft. Von links drang das Plätschern und Rauschen künstlicher Wasserfälle an unsere Ohren.
Der Vampir sprang an die nächste Kiefer und hockte dann in vier Meter Höhe fast rechtwinklig am Stamm.
»Rechts voraus«, flüsterte Derek.
Hinter dem Kiefernhain begann eine von Sonnenschein erfüllte Lichtung voller Kräuterbeete. Und zwischen dieser Lichtung und uns stand eine Frau.
Sie war von kräftiger Statur, ohne regelrecht fett zu sein. Ein schlichtes schwarzes Kleid hing von ihren Schultern bis fast auf den Boden herab. Ihre dicken Armen waren tief gebräunt. Sie trug eine Maske aus gehämmertem Eisen: ein stilisiertes rundes Gesicht mit Haarlocken ringsherum, dem Strahlenkranz der Sonne nachempfunden. Auf den zweiten Blick waren es aber eher keine Sonnenstrahlen. Sonnenstrahlen hatten keinen schuppigen Leib und kein mit Reißzähnen besetztes Maul.
Eine Medusenmaske. Der Scherz, den ich mir in der Honeycomb-Schlucht erlaubt hatte, wurde nun Wirklichkeit. Ich mit meiner großen Klappe mal wieder. Das nächste Mal würde ich mir bei so einer Gelegenheit ein ganzes Lagerhaus voller flauschiger Schmusehäschen vorstellen.
»Ich bin eine Abgesandte des Ordens«, sagte ich. »Ich untersuche das Verschwinden der Schwestern der Krähe. Das ist mein Kollege.« Ich wies mit einer Kopfbewegung auf Derek. »Und das ist ebenfalls ein Kollege von mir.« Ich wies auf den Vampir. »Ich würde gerne das Orakel befragen.«
Die Frau sagte darauf nichts. Sekunden verstrichen wie herabrieselnde Kiefernnadeln. Im alten Griechenland konnte die Medusa einen Menschen mit einem einzigen Blick in Stein verwandeln. Links neben mir stand eine schöne, kräftige Kiefer. Wenn die Frau die Maske vom Gesicht nahm, würde ich
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