Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
Doch in ihren Augen lag eine wache, Raubtierintelligenz. Sie saß kerzengerade auf einem großen Stuhl, der etwas von einem Thron hatte. Wie ein alternder Raubvogel: schon recht betagt, aber immer noch jederzeit bereit, auf seine Beute herabzustoßen.
Die Frau neben ihr war kaum älter als Julie. Sie saß zurückgelehnt auf einem kleinen Sofa römischen Stils. Ein faltenreiches Gewand aus schwarzer Seide umhüllte sie, und es war so üppig, dass sie fast darin verschwand. Bleich ruhte ihr Kopf auf ihrem gebeugten Arm. Ihre Wangenknochen standen hervor. Ihr Genick war kaum kräftiger als mein Handgelenk. Ihr dichtes blondes Haar aber fiel in zwei kräftigen Zöpfen herab.
Die dritte Frau saß auf einem Schaukelstuhl und strickte aus einem bräunlichen Garn ein von meiner Warte aus nicht zu erkennendes Kleidungsstück. Sie sah aus, als hätte sie all das verschlungen, was die anderen beiden entbehrten. Drall und mollig, das dichte braune Haar geflochten, sah sie mit einem wissenden Lächeln auf ihre Strickarbeit hinab.
Die Jungfer, die Mutter und das alte Weib. Eine geradezu klassische Kombination.
Ich hob den Blick zu dem großen Wandgemälde über ihnen. Eine Frau ragte über dem Podium empor, in einem schlichten, aber eindringlichen Stil gemalt. Sie hatte drei Arme. Der erste hielt ein Messer, der zweite eine Fackel und der dritte einen Kelch, um den sich eine kleine Schlange wand. Zu ihrer Linken saßen eine schwarze Katze und eine Kröte. Und rechts sah man einen Schlüssel und einen Besen.
Vor der Frau befand sich ein großer Kessel. Er schwebte über der Kreuzung dreier Straßen. Und von beiden Seiten liefen schwarze Hunde auf den Kessel zu.
Das Orakel huldigte Hekate, der Königin der Nacht, der Mutter aller Hexen. Man kannte sie unter ihrem griechischen Namen, doch sie war noch viel älter, entstammte uralten kleinasiatischen Kulten. Die alten Griechen hatten enormen Respekt vor ihr und machten sie zum einzigen Titan, den Zeus in sein Pantheon aufnahm, nicht zuletzt, weil er sich in sie verliebt hatte. Sie war die Göttin der Wegkreuzungen, von Sieg und Niederlage, der Zauber- wie der Heilkunst, die Wächterin der Grenze zwischen dem Spirituellen und dem Weltlichen und die Zeugin aller Verbrechen an Frauen und Kindern.
Ihr Orakel zu unterschätzen wäre äußerst unklug gewesen.
Ich spürte Derek hinter mir. Er wartete ab. Der Vampir hatte sich auf den Rand des Beckens gehockt. Ich verbeugte mich.
Die alte Frau sprach mich an. »Tritt näher.«
Langsam schritt ich durchs Wasser. Dann stießen meine Füße an Steinstufen, und ich trat aus dem Becken heraus.
»Näher«, sagte die Alte.
Ich trat noch einen Schritt vor und spürte die Ränder eines Banns, der dort bereitlag. Ich blieb stehen. Derek verharrte ebenfalls, doch der Vampir, der das alles nicht bemerkte, ging weiter vor.
Die Alte streckte eine Hand nach uns aus, die Finger starr wie Krallen. Kreidelinien drangen aus dem Stein, und mit einem Mal war ich in einem Zirkel aus Glyphen gefangen. Vor mir stürzte der Vampir zu Boden. Er war in eine ähnliche Falle gegangen. Derek knurrte, und ich musste mich nicht nach ihm umsehen, um zu wissen, dass auch er gefangen war.
Die Alte grinste höhnisch.
Ich sondierte den Bann. Er war stark, aber überwindbar. Sollte ich den Zirkel respektieren und darin bleiben, oder sollte ich den Bann durchbrechen? Darin zu bleiben wäre die höfliche Variante gewesen. Mit einem Ausbruch würde ich sie wahrscheinlich provozieren, aber würden sie überhaupt auf Augenhöhe mit mir umgehen, wenn ich mich so von ihnen festnageln ließ?
»Gebt mich frei«, hallte Ghasteks Stimme durch die Kuppel. »Ich bin guten Glaubens hierhergekommen.«
Die Alte riss die Hand nach rechts. Der Zirkel, in dem der Vampir gefangen war, glitt in diese Richtung, und der Blutsauger knallte mit Schwung an die Wand. Schadenfreude leuchtete in den Augen der Alten. Tja, damit wäre das ja wohl geklärt.
»Das ist eine Unverschämtheit!« Der Vampir sprang wieder auf die Beine.
»Schweig, Scheusal.«
Der Zirkel glitt nach links. Ghastek lief los, versuchte die Richtung vorauszuahnen, doch dann stellten ihm die Kreidestriche ein Bein, und er krachte auf den Steinboden. Die Alte hatte großen Spaß daran. Sie bewegte dabei nicht die Lippen, also musste es sich um einen schon vorher bestehenden Bann handeln. Wenn ich wenigstens gespürt hätte, welche Art von Magie sie verwandte, hätte ich etwas dagegen unternehmen können, aber, in diese
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