Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
neue Erkenntnisse über die vermissten Gestaltwandler?«
Curran nickte. Seine Miene wurde ernst.
»Schlechte Neuigkeiten?«, riet ich.
»Sie sind Amok gelaufen.«
Ich erstarrte, während ich dabei war, die Kaffeetasse zum Mund zu heben. Es wurde oft gesagt, dass es für Gestaltwandler nur zwei Möglichkeiten gab: sich an den Kode halten oder zum Loup werden. Die erste bedeutete ein Opfer und große Disziplin, die zweite katapultierte sie auf den Pfad wilder Hemmungslosigkeit und verwandelte sie in mordlustige kannibalische Wahnsinnige. Es gab auch noch eine dritte Möglichkeit, die jedoch fast nie verwirklicht wurde. Ein Gestaltwandler konnte seine Menschlichkeit völlig vergessen. Es war kein Loupismus im strengen Sinne, weil Loups häufig wieder menschliche Gestalt annahmen, und sei es nur, um ihre Opfer zu verspotten, während sie sie zerfleischten. Wilde Gestaltwandler fielen so tief in ihre animalische Natur zurück, dass sie die Fähigkeit zur Verwandlung, zum Sprechen und vermutlich auch zum zusammenhängenden menschlichen Denken verloren. Der Abstieg in die Wildheit geschah so selten, dass ich die bekannten Fälle an den Fingern einer Hand abzählen konnte. Normalerweise kam es dazu, wenn ein Gestaltwandler gezwungen war, über einen längeren Zeitraum – Monate oder manchmal Jahre – seine Tiergestalt beizubehalten.
Bedauerlicherweise trugen wilde Gestaltwandler immer noch das Lyc-V-Virus in sich. Wenn sie einen Menschen bissen und der Mensch zum Loup wurde, übernahm das Rudel die Verantwortung dafür. Das war die größte Bürde für die Alphas. Manchmal mussten sie ihre eigenen Leute töten.
»Hast du …?«
»Nicht ich, aber es wurde getan. Die Leichen werden heute zur Festung gebracht.«
»Aus welchem Grund sind sie wild geworden?« Ich rührte meinen Kaffee um.
Curran streckte den Arm aus und streichelte meine Hand. »Manchmal ist Furcht die Ursache. Wenn kleine Kinder sich erschrecken, wächst ihnen häufig ein Fell, und sie laufen davon.«
»Also hat sie ihnen so viel Angst eingejagt, dass sie ihre Menschlichkeit vergessen haben?«
Curran stutzte. »Sie?«
Dünnes Eis. Hier war äußerste Vorsicht geboten. Wenn ich Saiman erwähnte, ging Curran möglicherweise an die Decke. »Vermutlich ist es eine Frau. Sie navigiert die untoten Magier, genauso wie bei den Vampiren.«
Das musste er erst einmal verdauen. »Gehört sie denn zu Rolands Leuten?«
»Das weiß ich noch nicht. Du wirst es erfahren, sobald ich mehr herausgefunden habe.«
Curran schnitt zwei Stücke vom Kuchen ab und legte mir eins auf den Teller. »Wie lange brauchst du zum Packen?«
Plötzlich kam der glückliche Morgen mit quietschenden Bremsen zum Stehen. »Warum sollte ich packen?«, fragte ich beiläufig.
»Weil du mit mir zur Festung gehst.« Der Herr der Bestien sprach das mit der Selbstverständlichkeit einer Tatsache aus. Sein Gesicht zeigte den neutralen Ausdruck, den ich für mich als »Entweder du tust, was ich sage, oder du kriegst Ärger« interpretierte. Er meinte es tatsächlich ernst.
»Warum?«
»Sie hat dich in der Gilde gesehen. Sie könnte dich bis zu deiner Wohnung verfolgen. Hier bist du nicht sicher.«
»Netter Versuch. Sie hat dich im Visier, nicht mich.« Wenn ich ihm irgendeinen Hinweis gab, dass Roland hinter mir her war, würde er mich in die verdammte Festung tragen und mich in einen bombensicheren Raum einsperren.
»Ich will, dass du bei mir bist«, sagte er. »Das ist keine Bitte.«
»Zu schade. Eure Pelzigkeit scheint vergessen zu haben, dass ich auf Befehle allergisch reagiere.«
Wir starrten uns über den Tisch hinweg an.
»Du hast überhaupt keinen Selbsterhaltungstrieb.«
»Und du erwartest von mir, dass ich von der Festung zum Orden und zurück pendle. Das sind jeweils zwei Stunden. Aber vielleicht kann ich meinen Job, mein Haus und meine Kleidung auch gleich aufgeben.«
»Das habe ich nicht gesagt. Obwohl wir über deine Kleidung durchaus mal reden könnten.«
»Du bist nicht verpflichtet, mein Leben zu organisieren. Wir haben einmal miteinander geschlafen …«
Er hob sieben Finger.
»Okay«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wir hatten in einem Zeitraum von vierundzwanzig Stunden sieben Mal Sex. Nur weil ich deine Geliebte bin …«
»Partnerin.«
Die Worte verdunsteten auf meiner Zunge. Für Gestaltwandler war ein Partner gleichbedeutend mit Monogamie, Familie, Kindern – eine offizielle, körperliche und geistige Verbindung. Es bedeutete Ehe.
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