Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
Kampf gegen Vampire sehr gut war, aber unmöglich war es nicht.
Zweitens: Der Zustand, in dem sich Gregs zerfetzter Leichnam befand, deutete auf die Gestaltwandler hin. Derartige Schäden konnten nur Krallen und Zähne anrichten. Vielleicht war es ein Loup gewesen, ein gestörter Gestaltwandler. Die Körper derer, die vom Lycos-Virus, abgekürzt Lyc-V, befallen waren, gierten danach, alles unterschiedslos niederzumetzeln, während ihr Geist versuchte, dieser Blutgier Einhalt zu gebieten. Wenn der Geist über den Körper siegte, wurde so ein Gestaltwandler ein Freier Mensch des Kode und lebte in einem bestens organisierten und höchst disziplinierten Rudel. Siegte der Körper über den Geist, wurde der Gestaltwandler zum Lou p – einem kannibalischen Mörder, von Hormonen in den Wahnsinn getrieben, der auf alles Jagd machte und von jedermann gejagt wurde.
Die Louptheorie war sogar noch unwahrscheinlicher als die Volkstheorie. Erstens war der enthauptete Vampir ansonsten unversehrt, und Loups neigten dazu, ihre Opfer zu zerfleischen. Zweitens hätte Greg mehr als einen von ihnen getötet, und doch gab es am Tatort keine weiteren Leichen. Drittens: Wenn der Täter ein Loup oder wahrscheinlich eher mehrere Loups gewesen wäre, hätten sie am Tatort jede Menge Beweismaterial hinterlassen, von Speichel über Haare bis zu ihrem eigenen Blut. Das Rechtsmedizinische Institut verfügte über genetische Profile fast aller bekannten Gestaltwandlerarten. Und soweit ich feststellen konnte, enthielt die Akte nichts, das darauf hingedeutet hätte, dass man am Tatort Gestaltwandler- DNA gefunden hatte.
Ich rieb mir das Gesicht, aber auch das verhalf mir zu keinerlei tieferen Einsichten. Höchstwahrscheinlich war jemand ganz anderes der Täter, und vorläufig musste ich es dabei bewenden lassen.
Der Obduktionsbericht führte den enthaupteten Leichnam als Homo sapiens immortuus auf, als Vampir. Eine kuriose Bezeichnung, da der Geist eines Menschen in dem Moment starb, in dem der Vampirismus bei ihm einsetzte. Vampire kannten keine Gnade und keine Furcht, sie waren nicht lernfähig, und sie verfügten über kein Ego. Entwicklungsgeschichtlich ähnelten sie den Insekten. Sie besaßen ein Nervensystem, waren aber nicht in der Lage, bewusste Gedanken zu bilden. Ein unstillbarer Blutdurst beherrschte sie, und daher metzelten sie alles nieder, was ihnen in die Quere kam.
Ich runzelte die Stirn. Die Akte enthielt keinen M-Scan. Sämtliche Tatorte, die in Zusammenhang mit Todesfällen oder Fällen von Körperverletzung standen, wurden routinemäßig auf Magie gescannt. Sowohl die Polizei als auch das Militär konnten Zugang zu dieser Akte beantragen und nach einem Gerichtsbeschluss auch erlangen. Das Fehlen des M-Scans bedeutete, dass darauf etwas zu erkennen war, von dem der Orden nicht wollte, dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. Es sei denn, derselbe Schwachkopf, der die Fotos geschossen hatte, hatte den Scan versehentlich im Abfallkorb versenkt.
Dann kam nur noch eine letzte Seite in der Akte, und auf der waren einige Frauennamen aufgelistet. Sandra Molot, Angelina Gomez, Jennifer Ying, Alisa Konova. Keiner dieser Namen sagte mir etwas, und ich fand auch keinen Hinweis darauf, was diese Liste zu bedeuten hatte.
Eine erneute Untersuchung meiner Haare ergab, dass sie nicht mehr leuchteten. Ich ging zum Schreibtisch und rief die Nummer an, die im Polizeibericht angegeben war.
Eine barsche Stimme meldete sich. Ich stellte mich vor und bat, den zuständigen Beamten sprechen zu dürfen. »Ich ermittle in dem Mordfall um den Wahrsager des Ordens.«
»Wir haben mit dem Orden gesprochen«, entgegnete der Mann am anderen Ende. »Es steht alles in dem Bericht.«
»Mit mir haben Sie aber noch nicht gesprochen, Sir. Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ein paar Minuten für mich erübrigen könnten.«
Am anderen Ende wurde aufgelegt. So viel zum Thema Amtshilfe.
Meine Armbanduhr zeigte 12.58 Uhr. Zeit fürs Leichenschauhaus. Die vorgeschriebene einmonatige Wartefrist bei toten Vampiren war noch lange nicht um, und das neue Abzeichen in meinem Ausweis würde dafür sorgen, dass ich einen Blick auf die Leiche des Blutsaugers werfen durfte.
Ich schlug die Akte zu, legte sie beiseite und verließ das Gebäude.
Die städtische Leichenhalle befand sich mitten im Stadtzentrum. Gegenüber, jenseits der Fläche des Namenlosen Platzes, ragte die goldene Kuppel des Kapitolgebäudes empor. Die ursprüngliche Leichenhalle war gleich zweimal
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