Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
Achselhöhlen waren frei von Brandzeichen, ebenso die Brust, das Rückgrat, der Rücken, das Gesäß, die Innenseiten der Oberschenkel und Beinknöchel. Die einzige mögliche Stelle, die nun noch blieb, war der Hodensack, also spreizte ich die Beine des Vampirs. Die Hoden begannen sofort nach dem Tode des menschlichen Wesens zu schrumpfen, und diese Schrumpfung setzte sich während des vampirischen Weiterlebens fort. Es gab sogar eine wissenschaftliche Studie darüber, wie man das Alter dieser Blutsauger anhand der Größe ihrer Fortpflanzungsorgane bestimmen konnte. Wie alt dieser hier war, war mir herzlich egal, ich schätzte ihn aber auf etwa fünfzig. Und er war sauber. Keine Brandzeichen. Er hatte jedoch eine Narbe, die das Skrotum am linken Ansatz durchschnitt. Es sah aus, als wäre die Stelle genäht worden.
Ein schneller Rundblick verriet mir, dass ich hier im Raum kein Skalpell finden würde. Ich zog Slayer aus der Scheide. Das Schwert begann zu qualmen, als es den Untoten witterte. Von der Klinge stiegen zarte Rauchlöckchen auf.
»Reiß dich zusammen«, murmelte ich und legte die Schwertspitze auf die Narbe.
Das untote Gewebe zischte, als die Klinge ins Fleisch drang. Ich setzte einen etwa fünf Millimeter langen Schnitt und nahm das Schwert dann wieder fort. Anschließend zog ich vorsichtig an der überhängenden Haut, und sie löste sich vom Hodensack, und eine glatte Brandnarbe kam zum Vorschein, etwa zwei Zentimeter breit und einen Zentimeter lang.
In der Mitte dieser Narbe entdeckte ich ein säuberliches Brandzeichen, ein Pfeil mit einer kreisförmigen Spitze. Ghastek. Wieso wunderte mich das überhaupt nicht?
»Sie wissen doch hoffentlich, dass es strafbar ist, Leichen zu verstümmeln?«, sagte eine Männerstimme.
Ich wirbelte herum, das Schwert in der Hand. Ein großer Mann stand in der Tür. Er trug einen grünen Kittel, was bedeutete, dass er hier weit größere Befugnisse hatte als ich.
»Vorsichtig«, sagte er.
»Entschuldigung.« Ich ließ das Schwert sinken. »Ich werde nicht gern erschreckt.«
»Ja, ich auch nicht. Höchstens von attraktiven, jungen Frauen.« Er sah nach etwa Mitte dreißig aus. Und er hatte leuchtend orange Streifen auf der Schulter. Ich hatte es offenkundig mit einem leitenden Beamten zu tun.
So ein leitender Beamter konnte mich hier im Leichenschauhaus schneller zur unerwünschten Person erklären lassen, als ich papp sagen konnte.
Er streckte mir seine linke Hand entgegen. »Mein Name ist Crest.«
Ich zog mir den linken Handschuh aus, ohne Slayer niederzulegen, und schüttelte ihm die Hand. »Kate. Gibt es zu Crest auch einen Vornamen?«
»Ja, aber ich mag ihn nicht.«
Er war offenbar locker drauf. Vielleicht würde ich ja mit einem blauen Auge davonkommen, nachdem ich an einer Leiche herumgeschnippelt hatte.
»Es ist ein Vampir«, sagte ich. »Ich habe nach dem Brandzeichen gesucht.«
»Und? Haben Sie es gefunden?«
»Ja.«
Er ging an den Tisch, um mein Werk zu inspizieren. Ich stellte mich ihm gegenüber. Doktor Crest machte durchaus was her. Er hatte kastanienbraunes Haar, war groß gewachsen und nach seinen Unterarmen zu schließen recht muskulös. Er hatte ein angenehmes, freimütig wirkendes Gesicht mit kräftigen, aber fein geschnittenen Zügen und schöne Augen, honigbraun und warm. Seine vollen Lippen wirkten geradezu sinnlich. Ein attraktiver Mann, nicht im klassischen Sinne gut aussehend, abe r … Er hob den Blick von der Leiche und lächelte – und doch, ja, er sah gut aus.
Ich erwiderte sein Lächeln und gab mir Mühe, einen rechtschaffenen Eindruck zu verbreiten. Ja, Sir, ich werde sehr nett zu Ihnen sein, bloß bitte, bitte erteilen Sie mir hier kein Hausverbot.
»Interessant«, sagte er. »Dass ein Brandzeichen auf diese Weise verborgen war, habe ich noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht.«
»Sie haben beruflich öfter mit Vampiren zu tun?«
»Ja, leider.«
Ich merkte, dass er mich musterte, und senkte den Blick wieder auf die Leiche.
»Doktor Crest?«
Er blinzelte. »Ja?«
»Soll ich Julianne über das Brandzeichen informieren?« Das war das Mindeste, was ich tun konnte.
»Nein. Ich kann das für Sie übernehmen, wenn Sie losmüssen.«
Bei mir klingelte eine kleine Warnglocke. Der liebe Onkel Doktor war dann doch ein bisschen zu entgegenkommend. Ich musste dafür sorgen, dass Julianne diese Nachricht auch tatsächlich bekam.
Crest betrachtete den Leichnam mit gerunzelter Stirn. »Ziemlich hinterhältig, an dieser Stelle ein
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